Vom Täter oder vom Opfer?
Der Krimiblog von Tobias Gohlis
von Tobias Gohlis
von Tobias Gohlis
In der Dunkelkammer, die dieser Kolumne ihren Namen gibt, hat sich die Atmosphäre verändert. Statt sanftem Rotlicht zischen Blitze durch den abgedunkelten Raum. Im Entwicklerbad werden die Weiß-, Grau- und Schwarztöne nicht langsam sichtbar, sondern die Konturen der Bilder erstarren geheimnisvoll und unfertig. Wir sind im elften Roman Jerome Charyns um den Mann mit der Glock, um Isaac Sidel, den Citizen, den Mörder, der Bürgermeister von New York ist und demnächst Vizepräsident der Vereinigten Staaten: Unter dem Auge Gottes.
Ist das noch Krimi? Manche Leserinnen werden sich das fragen, wenn sie diesen Gewittersturm an Einfällen zu Liebesgeschichten, Gangstergeschichte, US- und New-York-Mythologie hinter sich haben. Und werden hoffentlich ihre Frage gleich wieder vergessen und damit die traurigen Abläufe der herkömmlichen Schemaliteratur hinter sich lassen. Wer einmal Charyn genossen hat, kommt nicht mehr davon runter. Champagner pur. (Was nicht heißt, dass man immer Champagner trinken muss.)
1974 war Isaac Sidel (in Blue Eyes, dem ersten Band der Serie) Deputy Chief Inspector. Jetzt, 1988, haben die Demokraten ihn auf ihren Schild gehoben. Er soll Vizepräsident der Vereinigten Staaten werden. Es ist die merkwürdige Zeit zwischen der Wahl und der Amtseinführung. Noch nicht endgültig gewählter Präsident ist Michael J. Storm, ein gieriger Immobilienspekulant. Storm und der noch amtierende Präsident Cottonwood wollen mitten in der damals (Ende der achtziger Jahre) völlig ruinierten Bronx ein Militärlager errichten – wie weiland im Mittelalter schwache Könige den rebellischen Städten eine Besatzungsmacht aufzwangen. Doch Sidel, immer noch der Mayor New Yorks, kann das nicht zulassen. Auf der Suche nach Verbündeten in diesem aussichtslos scheinenden Kampf findet er einen alten Mann in Pantoffeln. Er haust in einem der groteskesten Gebäude Manhattans, dem ehemaligen Hotel Ansonia. In diesem Palast mit lebenden Robben im Foyer und einer Farm auf dem Dach wohnte einst New Yorks größter Gangster Arnold Rothstein.
Als Sidel vom demokratischen Wahlkomitee gefragt wird, wer sein größter Held ist, zögert er nicht: „AR. Der König des Verbrechens.“ Der Mann in Pantoffeln ist Rothsteins Erbe David Pearl, auch in der Liebe: Er richtete Inez, der Geliebten des Gangsters, nach dessen Ermordung im Ansonia ein Museum ein. Jetzt, vierzig Jahre nach dem Tod dieser Inez hat er es mit einer neuen Inez besetzt. Isaac verliebt sich in sie und ihre silbernes Haar. David Pearl ist, wie alle Figuren Charyns, von grandioser Dubiosität. Er hat Sidel über die Jahre gefördert, jetzt organisiert er Mordanschläge auf den designierten Vizepräsidenten. Er ist der reichste Immobilienmakler New Yorks, hat aber noch nie ein Haus verkauft. Und er spielt Marionettentheater: mit Inez der Zweiten, mit Präsident Cottonwood, mit gedungenen Mördern, die er auf Isaac hetzt.
Hier könnte ich weiter schwelgen in bizarren Figuren und flirrenden Figurenkonstellationen, aus denen Schlaglichter auf die Wirklichkeit von Organisierter Kriminalität, Politik und ihren Mythen fallen. Oder nur fragen: Trauen Sie sich, Sidel zu folgen in seinen Kampf um die Bronx, in seinen Kampf um Amerika?
Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
diaphanes, 2013, 285 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in buchjournal 5-2013; KrimiZEIT-Bestenliste Oktober bis Dezember 2013
von Tobias Gohlis
Paul Kajetan, vor Jahren unehrenhaft entlassen als Inspektor der Kriminalpolizei, fasst wieder Mut. Die Nazis wirken angeschlagen, mangels Kasse mussten sie ihren Parteitag absagen, und auch in der völkisch verseuchten Münchner Polizeidirektion weht frischer Wind. Dr. Rosenauer empfängt den vormals „besten Ermittler“ mit offenen Armen. Kajetans winkt die Rehabilitierung, und zur Überbrückung schanzt der Kripochef seinem zukünftigen Spitzenmann einen Job als Detektiv beim berühmten jüdischen Anwalt Herzberg zu. So optimistisch eröffnet Robert Hültner den sechsten Band seiner langen Erzählung um den „sinnenfrohen Vernünftler und warmherzigen Utilitaristen“ Kajetan, den er seit zwanzig Jahren im Bayern der Weimarer Republik ermitteln lässt. Nur der Titel Am Ende des Tages und das Wissen der Leser über den tatsächlichen Ausgang der Geschichte nach diesem Hoffnung weckenden Jahr 1928 lassen Böses ahnen.
Allein, wie es dem Autor gelingt, die zarte Hoffnung auf einen guten Ausgang immer einleuchtender anwachsen zu lassen, ist ein erzählerisches Kunststück, das ihm nur wenige nachmachen dürften. Kajetan soll neue Beweise herbeischaffen, um einen seit zehn Jahren unschuldig wegen Mordes einsitzenden, im Knast beinahe zerbrechenden Bauern freizubekommen. Parallel taucht in den Chiemgauer Alpen ein zweiter Ermittler auf: Gustav Kull, vor Selbstbewusstsein platzender Preuße, einer der besten Privatdetektive seiner Zeit. Im Auftrag des Außenministers Stresemann soll er den Absturz eines Flugzeugs untersuchen, das geheime Hilfsgelder an einen Major Bischoff und seinen revanchistischen „Schutzbund für das Deutschtum im Ausland“* in Innsbruck transportieren sollte. Die Begegnung des Berliners mit den renitenten Gebirglern gerät Hültner zum Kabinettstückchen eines clash of civilisations.
Dialektischer und dialektstarker Skeptizismus
Wie ein Goldschmied der Barockzeit seine filigranen Jagdszenen ziseliert Hültner sprachliche Eigenheiten, regionalhistorische Details und faktischen Hintergrund seiner Kriminalromane, die als historische dem Vergleich mit Meistern wie Lion Feuchtwanger standhalten. Allerdings ist Hültners Perspektive weniger großbürgerlich und kolossalmoralisch.
In seinen Kajetanromanen brechen sich die großen Ereignisse der Weimarer Umbruchzeit – Räterepublik und Bürgerkrieg, Aufstieg der Nazis, Expressionismus und Lebensreform – am dialektischen und dialektstarken Skeptizismus der kleinen Leute. Geschickt verwebt Hültner aus mündlichen Erzählungen der Augenzeugen gewonnene Details mit präzise aus Staatsarchiven erschlossenen Fakten zur faszinierenden Kriminalerzählung.
Kulls politischen und Kajetans agrarischen Fall führt er leichthändig zusammen. Ein trauriger Tropf von mörderischem Handlanger und die Geldnot der Nazis zwingen die beiden ungleichen Detektive dorthin, wo die meisten Aufrechten damals stecken blieben, in einen aussichtslosen Kampf mit Hitlers Schlächtern. Eine derart gefinkelte, spannende, historisch genaue und tief im Regionalen verwurzelte Kriminalliteratur wie die Robert Hültners gibt es in Deutschland und in Europa nicht noch einmal.
* Die Eleganz, mit der Hültner historisch verbürgte Fakten in seine Krimifiktion wirkt, lässt sich an diesem Komplott verdeutlichen. „Major Bischoff“ und seine nationalistisch-interventionistische Truppe ist dem Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Waldemar Pabst nachempfunden, der sich nach 1955 in der BRD unbehelligt als Waffenhändler betätigen konnte und sich kurz vor seinem friedlichen Tod im „Spiegel“ noch als Patriot feiern ließ. Auch die Figur des Anwalts Herzberg hat ein Vorbild in dem berühmten Juristen Max Hirschberg.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 19 vom 2.5.2013
Robert Hültner:
Am Ende des Tages
btb, 285 Seiten