Patricia Highsmith‘ ZWEI FREMDE IM ZUG: Ein frühes Meisterwerk, endlich vollständig auf Deutsch
Was ist unverfänglicher als eine Reisebekanntschaft? Eine der gemeinsten hat Hitchcock verfilmt. Ein Tennischampion und ein reicher Nichtstuer treffen sich im Zug. Im lockeren Gesprächston erörtert der Nichtstuer Modelle für den perfekten Mord. Eines ist der Mord überkreuz. Wenn du meinen Vater umbringst, befreie ich dich von deiner Frau, und niemand kann ein Motiv entdecken, weil der jeweilige Täter keins hat. Hitchcock konstruiert aus dieser Zufallsbegegnung ein Erpressungsdrama: der Nichtstuer mordet und fordert nun vom Tennisspieler die nur in seiner Einbildung versprochene Gegenleistung. Die tödlichen Energien der Erpressungsschraube lösen sich im Zweikampf der beiden Männer auf einem immer rasender drehenden Karussell, dessen hämmernde Pferdeköpfe zu den Albtraumszenen des Kinos gehören wie der herabgerissene Duschvorhang aus Psycho.
Ein vollkommener Erstling
Lange Zeit war wenig bekannt, dass Hitchcock und sein Drehbuchautor Chandler 1951 für Strangers on a train den Erstling einer damals völlig unbekannten Autorin namens Patricia Highsmith als Vorlage benutzt hatten. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass Highsmith sich schon bald nach Europa verzog und damit in Amerika nicht mehr präsent war. Berühmt wurde sie in der Alten Welt und in Deutschland, doch mit Verspätung. Strangers on a train erschien erstmals 1967 auf Deutsch, also 17 Jahre nach seinem Debüt und unter dem missglückten Titel Alibi für Zwei. Titel wie Übersetzung gehorchten der Nachkriegs-Konvention, Kriminalromane als Reißer vorzustellen. Dem entsprach die Hochnäsigkeit einer Literaturkritik, die Krimis nur dann wahrzunehmen geruhte, wenn dies, wie im Fall der genialen Amerikanerin unvermeidlich war. „Die Geschichte … ist derart konzentriert und ohne Spezialgags erzählt, dass alle jene, die bei der Lektüre von Kriminalromanen ein Alibi benötigen, sich nicht zu sorgen brauchen: Die Highsmith schreibt tatsächlich Literatur,“ deklariert 1978 der Klappentext zu einer dtv-Ausgabe von Der talentierte Mr. Ripley.
Erst heute vollständig übersetzt
Zu dieser Geschichte der Hypokrisie gehört es, dass erst heute, nämlich mit dem ersten Band der soeben im Diogenes-Verlag gestarteten Werkausgabe, eine vollständige und darüber hinaus höchst nuancierte Übersetzung von Zwei Fremde im Zug erscheint. Der wahre Genuss kommt spät. Wem gar, wie mir, in der Erinnerung der Film den Roman überlagert hatte, hat nunmehr die Chance, Patricia Highsmith neu zu entdecken.
Alles, was die schwarze Kunst dieser Königin der Seelenzergliederung ausmacht, ist schon in ihrem ersten Roman voll da: die Einfühlung in jene Dunkelzonen der Seele, aus denen der Mord wächst, die kalkulierte, phrasenlose Technik des Erzählens, die dem Abgrund unaufhaltsam zu steuert.
Ihre Originalversion übersteigt die Hitchcocksche Erpressung zum Mord bei weitem an moralischer Rigorosität und Thrill. Wie in einem jener erst später zur Erforschung der menschlichen Gewaltbereitschaft entworfenen Psychotests setzt sie den jungen Architekten Guy Haines den Versuchungen des Charles Bruno aus. Der reiche Nichtsnutz, dessen Mitleid heischenden und charmant-versoffenen Züge von dem Kainsmal eines fetten Pickels gezeichnet sind, legt es darauf an, den good guy davon zu überzeugen, dass jeder, einen Mord begehen kann. Guys Selbsttäuschung liegt darin, dass hinter dem Vorschlag des straf- und folgenlosen gemeinsamen Mordes „irgendeine Logik … verborgen sein musste, die es wie bei einem Rechenexempel oder bei einem Puzzle herauszufinden galt.“ Doch wer der Verlockung zum Töten mit Ratio und Moral begegnen will, hat schon verloren. Guys Verstand und Selbstzucht brechen unter den verführerischen Attacken Brunos nach und nach ein. Guy – so der erst heute so akzentuiert lesbare homosexuelle Subtext – wehrt sich gay zu werden. Der daraus resultierende Gefühlswirrwarr aus Mitleid, Angstlust und Scham öffnet „Bruder“ Bruno erst recht Guys Flanken. Ausgerechnet dem tumben Liebhaber seiner ermordeten Frau versucht Guy später die Logik des Tötens plausibel zu machen, mit der universalen Entschuldigung aller Mitläufer: „Unter ähnlichen Voraussetzungen könnte ich Sie genauso dazu bringen, einen Menschen zu ermorden. Vielleicht würde ich andere Methoden benutzen als Bruno, aber möglich wäre es. Was glauben Sie denn, wie totalitäre Staaten sich am Leben halten?“
Katzenhaft umkreist Highsmith‘ Werk die Leidenschaften der Täter, ihren schleichenden Übertritt vom vermeintlich Normalen zum Exzess. Dass jeder fähig ist zu töten, auch der brave Guy von nebenan, war jedoch nur ihre erste moralische Provokation,. Im pickeligen, versoffenen und dennoch nicht abscheulichen Bruno ist schon als Vexierbild die Lichtgestalt eines Tom Ripley zu ahnen. Dieser Kain mordet für ein Divertimento aus dem Köchelverzeichnis. Mit der von Melanie Walz neu übersetzten Werkausgabe kommen auf Highsmith-Leser glänzende Tage zu. Wir warten schon.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 15/ 2002
Patricia Highsmith: Zwei Fremde im Zug
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Diogenes, 2002, 447 Seiten
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