Vier neue Titel: zwei aus USA, je einer aus Irland und England. Die Schauplätze: Beaumont Texas, „Carricksheedy“, Dublin, Rotorua, Neuseeland, „Monta Clare“ und viele andere Orte in den USA, Alabama, London.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und fünf Monaten.
Platz Eins im Juli (wie schon im Juni) :
Neu auf der Krimibestenliste Juli:
2 Der Auftrag der Zwillinge (The People Store)
Dieser dritte Roman Lisa Sandlins um Phelan and Wade Investigations ist in den USA (trotz zahlreicher Auszeichnungen für die beiden Vorgänger) noch nicht erschienen. Delpha Wade hat bekanntlich vierzehn Jahre im Knast gesessen, weil sie ihren Vergewaltiger in Notwehr getötet und das nicht bereut hat. (Ob die Verurteilten „glaubwürdig Reue“ zeigen, ist übrigens auch in deutschen Verfahren wichtig für Bewährung oder Verlängerung.)
Ihre Bewährungssituation verbietet ihr den Kontakt zu Ex-Sträflingen. Dennoch überredet sie ihren Noch-Nicht-Partner Tom Phelan), den Fall der todkranken, vermutlich vergifteten Zwillingsschwestern und Knastgenossinnen McClung aufzugreifen und berät sich mit einer von ihnen. Auch ihr zweiter Fall der beiden hat mit Eigentümlichkeiten des US-amerikanischen Justizwesens zu tun. Aus offensichtlich rassistischen Motiven verweigert eine Beamtin ihrem mexikanischen Schwiegersohn die Herausgabe der Todesurkunde seiner verstorbenen Frau.
Der Autor Benjamin Whitmer hat im Nachwort zu Attica Lockes PLEASANTVILLE das System der USA als eine Schlinge beschrieben, die sich um jeden zusammenziehen kann: „In den USA gibt es zu so gut wie jeder Facette des Lebens ein Gesetz, sodass es praktisch unmöglich ist, sich gesetzeskonform zu verhalten, selbst wenn man sich bemüht.“ Delpha, lebensklug geworden, weiß sich der Schlinge zu entziehen. Tapfer, kompromisslos in ihren Zielen, aber anpassungsfähig bei ihrer Durchsetzung, kämpft Delpha für die Unterdrückten, gewinnt aber auch, langsam, schrittweise, den Kontakt zur lange ausgesperrten Welt zurück. Es ist 1973/74, die Zeit der Watergate-Untersuchungen, und in eine der lustigsten Episoden dieses etwas weitschweifigen, aber lesenswerten Romans veräppeln Senioren vor dem Fernseher die Lügeneskapaden des damaligen Präsidenten.
Wer erinnert sich noch an Nixon?
Am 5. Juli hat Kolja Mensing Lisa Sandlins DER AUFTRAG DER ZWILLINGE rezensiert.
6 Seltsame Sally Diamond (Strange Sally Diamond)
Liz Nugent, Jahrgang 1967; hat in den beiden vorausgegangen Romanen KLEINE GRAUSAMKEITEN (2021) und AUF DER LAUER LIEGEN (2022) ihr herausragendes Talent bewiesen, dysfunktionale Familienbeziehungen als Stoff für Kriminalfälle zu behandeln. Die Familienbeziehungen in SELTSAME SALLY DIAMOND jedoch als dysfunktional zu charakterisieren, wäre die Untertreibung des Jahrzehnts. Erinnernd an den Fall Fritzl – Romanvorlage bereits für Nugents irisch-kanadische Kollegin Emma Donoghue – ist Sallys Mutter Denise mit ef Jahren von einem Conor Geary entführt und vergewaltigt worden.
In der fast ein Jahrzehnt währenden Gefangenschaft hat er mit ihr zwei Kinder gezeugt: Peter und Sally. Nach der Befreiung gerieten Mutter und Tochter in die Fürsorge eines Psychiaters, der sie als seine Spezial-Sensationsfälle behandelte. Die Mutter beging kurz danach Selbstmord.
Sally, mit zweiundvierzig Jahren immer noch mit dem „Gemüt eines verstörten Kindes“ (Marcus Müntefering), tut ihren ersten Schritt in die Freiheit, indem sie den Joke ihres verstorbenen Psyhiaters und Adoptivvaters („Wenn ich sterbe, kannst du mich einfach mit dem Müll entsorgen.“) wörtlich nimmt und versucht, seinen Leichnam auf ihrem abgelegenen Hof zu verbrennen.
Während Sally tastend versucht, andere Menschen zu verstehen, Therapien macht und sich vor ihnen ins Klavierspiel flüchtet, werden ihr aus Neuseeland merkwürdige Signale zugeschickt. Ein Brief, ein Teddy, den sie als das Spielzeug aus ihrer Kindheit erkennt. Mit deren Hilfe arbeitet Sally sich in eine traumatische Vergangenheit zurück, die sie komplett vergessen hat.
Diese Signale stammen von ihrem älteren Bruder, der ein ähnliches Schicksal erlitten hat und jetzt, nachdem die Schwester, die ihren „Vater verbrannte“ durch die Gazetten gezogen wurde, Kontakt zu ihr aufnehmen will.
Nugents Psychothriller ist grandios. Während sie nach und nach, und sehr schonend, die traumatischen Details von Peters und Sallys Zeugung und Gefangenschaft enthüllt, schildert sie in zwei Erzählsträngen die Bemühungen der beiden durch Welten getrennten Geschwister, sich aus den seelischen Verwundungen und Verstrickungen zu lösen, die ihnen beigebracht wurden.
Wie und ob ihnen das gelingt, ist das letzte Rätsel dieses ungemein verstörenden Romans.
9 In den Farben des Dunkels (All the Colours of the Dark)
Ich mache es kurz: IN DEN FARBEN DES DUNKELS ist der vierte Roman des ehemaligen Finanztraders Chris Whitaker und ist alles in allem auf Überwältigung angelegt.
Im ersten Absatz des Buches erfahren wir, das der dreizehnjährige Patch überzeugt davon ist, „dass es hinter dem Ozark Plateau Goldadern gab. Dass dort eine bessere Welt auf ihn wartete.“ Im zweiten Absatz, dass er „an jenem Vormittag sterbend im Wald lag“ und dass er mit nur einem Auge zu Welt gekommen war und deshalb Augenklappen trug.
Wer nach diesem ersten Trigger-Trommelfeuer das knapp 600 Seiten dicke Buch (eine überwältigte Buchhändlerin glaubte im WDR, 700 Seiten verschlungen zu haben) genervt zuschlägt, erspart sich eine faszinierende, all-komptible Mischung aus unwerwarteten Erfindungen, sentimentalen wie bitteren Wendungen, intensiven Gefühlen und einem harten Kern. Der besteht in der Suche nach einem Serienmörder, der eines seiner potentiellen Opfer in der Zeitung bei einer Demonstration entdeckt hat, auf der der Prozess-Sieg Jane Roes gefeiert wurde. (siehe oben)
Das Geschickte an Whitakers Pageturner ist, dass die harten Fakten oder der Kriminalfall eingewoben sind in ein Spinnengewebe recht zauberhafter Ereignisse. Zum Beispiel wird der Junge, der die höchst attraktive Demonstrantin heldenhaft vor den Fängen des Serienmörders rettete, selbst geschlagen und entführt, mehr als ein Jahr lang in einem dunkeln Verlies gefangen gehalten. Seine Einsamkeit wird nur unterbrochen durch Besuche einer Grace, die ihm im Dunkeln Geschichten zuflüstert und so vor dem Wahnsinn bewahrt. Patch widmet sein restliches Leben nach der Befreiung durch eine Jugendfreundin, die später zur strengen Gesetzeshüterin mutiert, der Suche jener Grace und nach verschollenen Mädchen sprich Opfern jenes ominösen Serienmörders und seiner Motive.
Patch wird zum berühmten Maler, Bankräuber und Mörder – ach das hätte ich alles nicht verraten dürfen, weil er ja schon im dritten Absatz dieses Buches „sterbend im Wald lag“. Der märchenhaft wohlgestrickten Patchworkdecke aus Phantasy, Romantik, Serienmörderkrimi und Liebesgeschichte zweier Ozark-Kinder kann man sich schwer entziehen. Es sei denn, man gehört zur Sorte noch älterer und strengerer Kritiker als ich es bin. Ein solcher hätte Whitakers IN DEN FARBEN DES DUNKELS grummelnd eine „Poeselei“ genannt.
10 Die Schnellimbissdetektivin (The Short-Order Detective)
Über Liza Cody, die Erfinderin unsterblicher Heldinnen wie der Wrestlerin Eva Wylie und der obdachlosen Hundeliebhaberin Lady Bag müssen an dieser Stelle nicht viele Worte verloren werden: großartige Erzählerin, Erfinderin weiblicher Helden, zunächst in der Polizei, dann als private Ermittlerinnen, selbstironische Ikone der feministischen Kriminalliteratur, immer auf der Seite der Armen und Außenseiter.
In DIE SCHNELLIMBISSDETEKTIVIN schickt Cody, inzwischen selber achtzig geworden, eine Endzwanzigerin auf die Londoner Piste, genauer auf die Südlondoner Piste. Dort hat sie einen mies bezahlten Job bei einem frauen- und menschenfeindlichen kleinen fiesen Ausbeuter gefunden. Der stellt der eben geschassten Polizistin und schwer von einem Polizisten-Lover gedemütigten fleisch- und fettliebenden Hetera immerhin sein Büro zur Verfügung, wo sie kleine Detektivfälle unterhalb der Schwelle bearbeitet, an der die Polizei einzugreifen bereit ist. Es ist die Schwelle des alltäglichen menschlichen Drangsals: entführte Hunde, geklautes Gemüse, Müll vor der Haustür, Ehemänner-Beschattung. Hannah Abram, verfolgt nicht zuletzt von den Männern ihrer Familie, bricht beinahe zusammen unter der Vielzahl der Fälle und Ansprüche, wird Zeugin eines Mordes, muss zu dessen Aufklärung beitragen und wieder erfahren, wie feige und verlogen und verfickt Männer sein können, auch wenn sie das Fortpflanzungsalter eigentlich schon überschritten haben.
Hannahs Hauptfall ist die Suche nach einer verschütt gegangenen Stiefschwester. Ihre Stimme glaubt ihr neurotischer Stiefbruder auf einem dieser Betrugsanrufe vernommen zu haben, die nicht nur Hannah in den Wahnsinn treiben.
Lesen Sie hierzu die begeisterte Rezension von Sylvia Staude.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE JULI?
Die KRIMIBESTENLISTE JULI ist seit Freitag, dem 5. Juli 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste Juli gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 5. Juli hat Kolaj Mensing über den höchsten Neueinstieg auf der Krimibestenliste Juli DER AUFTRAG DER ZWILLINGE gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen. Suchen Sie einfach auf der Webseite nach dem Stichwort „Krimi“.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Juli.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis