Fünf neue Titel: je einer aus den USA, Deutschland, den Niederlanden, Australien und Frankreich. Die Schauplätze: Oregon, Sacramento Valley, Hamburg, Dänemark, Den Haag, Dresden, Zürich, Westaustralien, Region Lille.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und einem Monat.
Platz Eins im April und neu auf der Krimibestenliste:
1 Abgetaucht (Hideout)
Freundinnen und Freunde von Jack Reachers Methode, Gut von Böse zu trennen, werden sich freuen: In Louisa Lunas Heldin Alice Vega hat Lee Childs Ex-Militärpolizist ein würdiges weibliches Pendant gefunden. Sie operiert in einem Amerika, das klar in Neofaschisten und anständige Menschen unterschieden ist. Erstere beschmieren Privatwagen und zerdeppern sie, weshalb letztere, also Alice, ebenfalls Autos zerdeppern. (Oder die ganz Renitenten umlegen). Vom christlichen Hinhalten der anderen Wange hält Alice gar nichts.
In ABGETAUCHT kommt sie wie ein Westernheld in die von Sheriff und Großgrundbesitzer beherrschte Stadt „Ilona“ in Oregon. Dort hat man zuletzt den Footballstar Zeb Williams gesehen. Der ist mitten vor dem siegreichen Schuss aus dem Stadion gerannt und seit dem – das ist über dreißig Jahre her – verschwunden. Alice, Privatermittlerin, nicht Detektivin, wie sie betont, soll ihn im Auftrag des Ehemanns seiner früheren College-Freundin finden.
Bei ihren Recherchen stößt Alice sowohl auf ein Nest aus dem Hintergrund gelenkter rassistischer Jugendlicher als auch auf Zeugen, die den verschwundenen Zeb gesehen haben. So dass sich Alice‘ Kampf gegen US-amerikanischen Neofaschismus und für die Aufdeckung der Wahrheit über Zebs Verschwinden aufs Trefflichste verbinden.
Jurymitglied Hanspeter Eggenberger urteilt: „So geht gescheite feministische Unterhaltung“. Und Jurorin Katrin Doerksen im Deutschlandfunk Kultur ist entzückt.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste April:
6 Danowski – Sturmkehre
Von nun an geht’s bergab. Das beschreibt die Kurve, die Leben und Karriere des Adam (=Mensch) Danowski als Polizist in Till Raethers Serie machen. In nunmehr sieben Romanen hat sich Danowski durch alle denkbaren psychischen Zustände und polizeilichen Jobs (Fallanalytiker, Mordermittler, Aktenschieber) gearbeitet, ohne voranzukommen. Weder in der Karriere, noch in der Lebenseinsicht, noch im Selbstverständnis.
STURMKEHRE ist das Ende. Seine beiden besten Freunde und Kollegen hat der hypersensible, hyperselbstkritische Mann so sehr vergrätzt, dass sie praktisch die Kommunikation mit ihm eingestellt haben. Die Scheidung von seiner Frau Leslie steht bevor, seine geliebten, aber irgendwie unverstandenen Töchter, sind auf dem Absprung oder haben bereits das Haus verlassen.
Als er endlich einmal (im vorletzten Roman HAUSBRUCH, benannt nach einem Hamburger Viertel) das Richtige getan und einer gequälten Frau geholfen hat, sich der Leiche ihres Mannes zu entledigen, war das natürlich auch das Falsche. Weil er seine Kumpel in die verbotene Aktion nicht einbezogen hat, um sie vor dem Vorwurf der Mittäterschaft zu beschützen, hat sein Vorgesetzter Kienbaum davon erfahren. Der ist aber ein Sadist und Karrierist, er kommandiert Danowski wie sein Hündchen herum. Er braucht nur die Schublade zu öffnen, in der eine Akte mit Adams Verfehlungen liegt, und schon geht der in den Knast, wegen Beihilfe zu Mord oder Beseitigung eines Mordopfers. Das ist die Ausgangssituation von STURMKEHRE.
Kienbaum will Polizeipräsident werden. Dafür will er seine Fallstatistik aufbessern und manipuliert den bereits geständigen und gefassten „Fleetmörder“, noch ein Verbrechen mehr zu gestehen. Problem ist nur, dass die Leiche der angeblich von ihm ermordeten Maria Kolossa nicht nur nicht aufzufinden ist. Sondern dass sie, wie Danowski nach einigen Recherchen vermutet, sogar noch lebt. Aber versteckt. Er muss sie finden, tot oder lebendig, wenn er ein freier Mann bleiben will.
Wie das ausgeht, wird hier nicht verraten. Nur so viel: Raether mochte schon immer irre Showdowns. Aber dieser, auf einer einsamen Insel in Dänemark ist eindeutig der irrste, den er erfunden hat. Und Danowski, eine der spannendsten verdrehten Figuren der deutschen Kriminalliteratur der letzten Jahre, tritt vielleicht doch nicht ab. Was zu hoffen wäre.
7 Repair Club (De Repair Club)
Charles den Tex (geboren 1952 in Australien, lebt seit 1958 in den Niederlanden) ist bei sich zu Hause einer der bekanntesten und meistgelesenen Autoren von „Misdaads“ und hat bereits dreimal den „Gouden Strop“ (Goldenen Strick), die höchste Auszeichnung der niederländischen Krimiautoren, bekommen. REPAIR CLUB wäre ein Anwärter auf den vierten Goldenen Strick.
Mit Erstaunen und Erschrecken haben die meisten West-Europäer auf den Überfall Russlands auf die Ukraine reagiert. So friedlich und unbeschwert schien das Leben nach 1989. So auch den vier Mitgliedern des Repair Club, die auf Wochenmärkten defekte Haushaltsgeräte reparieren, um ärmeren Mitbürgern zu helfen. Bis jemand eines Tages John Antink, dem stillen Chef der vier Rentner, statt einer verklemmenten Schreibmaschine eine Pistole vor die Nase hält.
Antink, von dem kaum jemand weiß, dass er der pensionierte Chef des niederländischen Geheimdienstes ist, erkennt in dem bewaffneten Kunden einen Boten aus seiner Vergangenheit. Die hat es in sich. In schubweisen Rückblenden, in denen den Tex immer gerade soviel verrät, wie für den Fortgang der Handlung nötig ist, erfahren wir, dass Antink unter dem Decknamen Danzler in Kooperation mit dem KGB und der Stasi in Dresden in den letzten Jahren vor 1989 Finanzkonstrukte geschaffen hat. Die dienten der sozialistischen Elite, ihre versteckten Vermögenwerte ins sichere westliche Ausland zu transferieren. Mit Billigung des niederländischen Geheimdienstes, der sich davon eine langfristige informationelle Information erhoffte. Bevor der Kunde seine weiteren Absichten kundtun kann, liegt er vergiftet in seiner Tarnwohnung.
Während Antink mit seinen Repair-Freunden versucht, die Bedrohungen aus der jüngeren postsozialistischen Vergangenheit einzukreisen, sieht sich seine dunkelhäutige Nachfolgerin nicht nur rassistischen und chauvinistischen Demütigungen ausgesetzt, sondern auch dem Vorwurf, illegal syrische Terroristen finanziert zu haben. Sie sucht nach Antink, der nicht zu finden ist. Währenddessen wird seine Frau, geduldige Hausfrau wie weiland Penelope, entführt und bedroht.
Den Tex legt mit REPAIR CLUB einen der ersten Spionageromane vor, der sich nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ mit den west-östlichen Kabalen nach 1989 auseinandersetzt. Dabei deckt er nicht nur die westliche Doppelmoral auf, sondern spekuliert auch über langfristige Pläne eines kleinen, blonden KGB-Offiziers aus Dresden, der heute auf der Spitze eines Eisbergs aus Verschwörungen, imperialistischen Ambitionen und Atombomben sitzt. Hochspannend und voller unerwarteter Twists lehrt den Tex die Naiven – und das sind wir alle – , dass alles ganz anders ist als es scheint und man niemals den hehren Worten trauen kann, kommen sie nun aus westlichen oder östlichen Politiker- oder Geheimdienstmündern.
Der französische Soziologe Luc Boltanski hat seinerzeit beschrieben, dass der Beitrag der Kriminalliteratur zur Demokratie in der Förderung einer gesunden Paranoia und dem Misstrauen gegenüber staatlichen Machtapparaten besteht. REPAIR CLUB ist hierfür ein mitreißendes Anschauungsbeispiel.
8 Bird (Bird)
In der Krimiszene war der australische Autor und Filmemacher Adam Morris, bis 2020 sein Gefängnisroman BIRD erschien, unbekannt. Jurymitglied Alf Mayer hat seinen Roman, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, in einem längeren Essay im Crimemag 2021 vorgestellt. Lesen Sie Mayers Essay hier.
Australische Autoren können ihre Romane als Dissertation einreichen. Garry Disher hat dies im Alter von über 70 getan, Dr Adam Morris hat dies mit BIRD WITH A BROKEN LEG unter dem Thema „Whiteness and Australian Fiction“ erreicht. In Deutschland geht das eher nicht.
10 An der A26 (L‘ A26)
Als Lesevergnügen kann man Pascal Garniers 1999 erstmals veröffentlichten Roman AN DER A26 wahrlich nicht anpreisen. Zu schwarz ist die Geschichte von Alice und Bernard, einer seit 50 Jahren wie tot vor sich hin vegetierenden Frau und ihrem todkranken Bruder. Ihr wurden von denen, die nicht an sie ran durften, wegen Liebe zu ihrem „deutschkopp“ nach Kriegsende der Kopf geschoren. Er darf wegen Krankheit nicht mehr bei seiner geliebten Eisenbahn arbeiten und verfällt stattdessen auf Frauenmord.
Garnier (1949 – 2010) ist ein französischer Noir-Autor, den der Wiener SeptimeVerlag jüngst für den deutschen Sprachraum entdeckt hat. Wie schon im BEIFAHRER von 2023 und eine andere Neuentdeckung aus Frankreich, Joseph Incardona, hat Garnier ein morbides Verhältnis zum Autoverkehr: Mord und Autobahn als Verkörperung modernen Unwesens fallen für sie zusammen. Wieder war es unser Schweizer Juror Hanspeter Eggenberger, der eine klasse Rezension über AN DER A26 verfasst hat.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE APRIL?
Die KRIMIBESTENLISTE APRIL ist seit Freitag, dem 5. April 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE APRIL hier.
Kolja Mensing hat hier über die KRIMIBESTENLISTE APRIL gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 5. April hat Katrin Doerksen über die aktuelle Nummer Eins ABGETAUCHT gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste April.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Frühlingstage!
Ihr Tobias Gohlis
Walter Reinhard Lehmann meint
Guten Abend, Tobias Gohlis,
ich zitiere den Text zu Beginn der KRIMIBESTENLISTE APRIL 2024
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und einem Monat.
Ich bin nicht der Meinung, dass Schweigen angebracht ist. Im Gegenteil. Die ausgewählten Titel zeigen das wieder sehr deutlich. Mit der Beschreibung Ihrer persönlichen Gefühle erinnern Sie den Leser an eine unabgeschossene Waffe. Sehen Sie, genau das ist der Punkt. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Er beschreibt alle denkbaren Zustände und Konflikte, schafft Hoffnung, das Böse in einem gesellschaftlichen Konsens zu besiegen. Das Format „Buch“, ob Krimi oder Thriller, ist so vielseitig, wie die Lebensansichten der Menschen. Egal, darüber ließe sich unendlich philosophieren. Dem Leser bietet sich eine Plattform, die der Unterhaltung Nachdenken abverlangt. Das gilt sowohl für die Fallbearbeitung und erst recht, über die Sinnlosigkeit von Kriegen und deren Beendigung nachzudenken. Der niederländische Krimiautor Charles den Tex bietet mit REPAIR CLUB dafür ein treffendes Anschauungsbeispiel. Sie führen den französischen Soziologen Luc Boltanski ins Feld. Ist gut gemeint. Auch wenn der unbedarfte Leser den Herrn wohl kaum kennt, spricht eines für seine Ansicht: … der Beitrag der Kriminalliteratur zur Demokratie besteht in der Förderung einer gesunden Paranoia und dem Misstrauen gegenüber staatlicher Machtapparate…
Herzliche Grüße
Reinhard Lehmann
Tobias Gohlis meint
Lieber Herr Lehmann,
nicht schweigen, sondern über Krimis schweigen. Aber Sie haben recht: Die Kriminalliteratur, die wir vorstellen, schweigt nicht, sondern redet laut.
Danke für Ihren Beitrag!
Herzlich Tobias Gohlis