Sechs Titel sind neu: drei aus den Vereinigten Staaten, je einer aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Die Schauplätze: „Paxton“ in Frankreich, „Wechtershagen“ in Mecklenburg-Vorpommern, Louisiana, New Orleans, New Iberia, St. Martins, Meachum, Harlem, Manhattan, Paris, Grönland, Helgoland, Kiel, Amagansett, Texel, Rheinfelden.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und acht Monaten. Und über den kollaboratorischen Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.
TÖDLICHE TRANSPARENZ erinnert an die Nachkriegs-Dystopien von George Orwell und Ray Bradbury und wandelt sie ins Optimistische ab. Variation und Spiel sind auch die Zaubermittel, mit denen große Serien lebendig bleiben. Eine und Einen der Größten feiern wir gleich doppelt: Vom amerikanischen „Nationalheiligtum“, wie ihn Stephen King genannt hat, James Lee Burke stehen gleich zwei Romane aus zwei unterschiedlichen Verlagen und aus unterschiedlichen Handlungszeiten auf der Liste. Und eine kurze große Serie, die vier Nordsee-Kriminalromane um Liewe Cupido von Mathijs Deen findet ihren Abschluss – natürlich mit einer neuen Variante.

Neu und Platz Eins im Oktober:
1 Tödliche Transparenz (Panorama)
Das Thema kommt immer wieder auf, besonders in Zeiten der Unsicherheit und Krise: Quasi allmächtige, totalitäre Kontrolle der Gesellschaft. George Orwells 1984 entstand 1948 als Reaktion auf Stalinismus und totalitäre Tendenzen in den kapitalistischen Ländern. Die Gedankenpolizei einer Partei kontrolliert durch ein öffentliches Überwachungssystem jede Abweichung von der Parteilinie. In Ray Bradburys FAHRENHEIT 451 kontrolliert der totalitäre Staat seine Bürger und ihre Individualität durch das rigide Verbot von Büchern.
In TÖDLICHE TRANSPARENZ sind es die Bürger selbst, die durch Social Media jede Abweichung von der Norm der Transparenz ahnden. Die Häuser sind gläsern, die Nachbarn patroullieren. Ausgelöst wurde die allgemeine Selbstkontrolle durch eine Revolution gegen die Korruption von Staat und Polizei 2029. Als 2050 ein Ehepaar und ihr Sohn verschwinden, ohne mehr als einen Blutstropfen zu hinterlassen, gibt es nur noch wenige Polizisten mit Ermittlungserfahrung. Eine von ihnen ist die Ich-Erzählerin, die gegen einen Mob von Social-Media-Klickern, die die Strafmündigkeit auf 7 Jahre herabsetzen und für jeden Blödsinn stimmen, die Wahrheit herausfinden muss. Und die sieht ganz anders aus als die Tugenddiktatoren sich haben träumen lassen.
Es ist der dritte Roman der 1991 geborenen Journalistin und Schriftstellerin Lilia Hassaine und endet einen Hauch versöhnlicher als seine antitotalitären Vorläufer. In diesem Zusammenhang erinnere ich gerne an den herausragenden Roman SCORE von Martin Burckhardt, 2015 erschienen. Darin wird eine Gesellschaft geschildert, die nach dem Like-System von facebook funktioniert. Das Internet unter Kontrolle der Social Media ist selbstinduzierte Diktatur.
Hier die Rezensionen zu TÖDLICHE TRANSPARENZ von Hannes Hintermeier, Wolfgang Brylla und Sonja Hartl
Weiterhin neu auf der Krimibestenliste Oktober:
4 Die Farbe des Schattens
Mit „Wechtershagen“ (das nicht sehr vom realen Neubrandenburg unterschieden ist), der unmittelbaren Nachwende-Zeit und dem aus Wechtershagen stammenden, aber in Hamburg professionell sozialisierten Kommissar Arno Groth hat Susanne Tägder ein Setting geschaffen, das fasziniert. Schon ihr erster Roman DAS SCHWEIGEN DES WASSERS (2024) stand auf der Krimibestenliste, mit ihrem neuen DIE FARBE DES SCHATTENS reiht siesich endgültig in die Riege der bedächtigen, genau die sozialen und emotionalen Schattierungen eines Kriminalfalls beobachtenden Autoren wie Mathijs Deen und Matthias Wittekindt ein.
Ein elfjähriger Junge aus einem Plattenbau am Rande von „Wechtershagen“ verschwindet spurlos beim abendlichen Einkaufen. Groth, immer noch traumatisiert vom Unfalltod seiner eigenen Tochter , ist ratlos. Alle Hinweise verlaufen sich in der Trostlosigkeit jener Jahre – Arbeitslosigkeit, rechte Verführer, Alkohol. Erst ein literarisches Verfahren, Uwe Johnson abgeschaut, hilft, nicht das Kind zu finden, aber den Täter aus dem Verkehr zu ziehen.
7 Im Süden (Flags on the Bayou)
Immer wieder hat James Lee Burke, der im kommenden Jahr 90 wird, Filmcrews in seinen Romanen die Handlung spiegeln lassen, oft finster und verwickelt in die geschilderten Verbrechen. Aber nur wenige seiner gefühlt über 40 Bücher sind verfilmt worden, zu filmisch, zu expressiv ist die Sprache des Altmeisters.
Flags on the Bayou nimmt in seinem Werk eine Sonderstellung ein. Es ist nämlich der Roman eines Films, dessen Entstehungsgeschichte in einem anderen Roman erzählt wird. Es gehört zu den wunderbaren Zufällen des Verlagswesens, dass auch dieser Roman, der übrigens erst ein Jahr später geschrieben und auf Deutsch in einem anderen Verlag veröffentlicht wurde, auch 2025 erschienen ist – und auf dieser Krimibestenliste Oktober steht: CLETE.
IM SÜDEN ist ein wildes, grausames Epos, so wild und unübersichtlich wie die Lage in Louisiana 1863. Die Union hatte die Gegend oberflächlich unter Kontrolle, aber unbesiegte Konföderierte und vor allem Freischärler marodierten, konfizierten, schändeten, soweit ihre Gewehrläufe reichten. In dieses Chaos hinein erzählt Burke die Geschichte von Hannah, einer gebildeten Sklavin (sie spricht und liest mehr Sprachen als ein mittelhoher Nordstaatenoffizier), die ihren in den Kriegswirren verlorenen Sohn Samuel sucht. Da auf ihrer Plantage ein weißer Frauenschänder ermordet wurde, ist sie automatisch unter Verdacht. Gesucht, aber auch verehrt wird sie von Constable Pierre Cauchon, einem von den Plantagenbesitzern verabscheuten Menschen aus dem weißen Abschaum, der zuständig ist für die Rechte und vor allem des Gesetzesvollzug unter der Schwarzen Bevölkerung. Auf Hannahs Seite steht Florence, eine abolitionistische, puritanische Lehrerin aus dem Norden, friedfertig, damenhaft, eine Mörderin aus Notwehr.
Wie diese drei Menschen ihre Menschlichkeit im Chaos soldatischer Gewalt in aller Widersprüchlichkeit zu bewahren suchen, wird von Burke in diesem grandiosen Alterswerk ebenso ernsthaft geschildert wie die komplexen Regeln der Ehrhaftigkeit brutaler Südstaaten-Gentlemen.
8 Clete
Als vor zwei Jahren der 23. Band der Serie um Dave Robicheaux Verschwinden ist keine Lösung erschien und auf der Krimibestenliste stand, stimmte ich ein großes Abschiedslied an. Ich vermutete, das sei der letzte Roman um den alkoholkranken, romantischen Cajun-Detektiv aus Burkes Feder. Irrtum: Inzwischen gibt es CLETE und in den USA gibt es noch einen 25. Roman The Hadacol Boogie, der 2026 erscheinen soll.
CLETE wird von Clete Purcel, dem irisch-stämmigen Kumpel Daves erzählt: Beide Alkoholiker, voller Narben und traumatischer Erinnerungen an „Shitsville“ (Saigon), später die unzertrennbaren „Bobbsey-Twins von der Mordkommission“, heute (in den Neunzigern) der eine suspendierter Officer im Sheriff-Department von New Iberia, der andere Privatdetektiv in New Orleans.
Als Mitglieder einer Neonazi-Gang von Clete erwischt werden, die seinen Caddy Eldorado im Hof seines Hauses auseinandernehmen, beginnt die etwas verworrene Geschichte einer Suche nach dem, was die Gangster finden wollten. Hintermänner sind weitere Nazis, ein dubioser Geschäftsmann – sie bedrohen Dave, und Clete wird nur von der Jungfrau Jeanne D’Arc vor mörderischen Schützen in den Sümpfen gerettet. Clete ist gnadenlos gegen die Bösen, bewahrt er doch einen Zeitungsausschnitt mit einer Jüdin am Herzen, die mit ihren Kindern auf dem Weg ins Gas photographiert wurde. Und verknallt sich unsterblich in seine Mandantin, die Frau des Geschäftsmanns, die wie der Stummfilmstar Clara Bow aussieht und auch so heißt.
Diese wird den Film Flags on the Bayou drehen, in dem Clete eine Rolle angeboten bekommen soll. Noch ein Querverweis: der historische Richter über Jeanne d’Arc hieß Pierre Cauchon – wie der Constable im Roman Flags on the Bayou. Im Epilog von CLETE ist dann noch von einer Südstaaten-TV-Serie die Rede aus der Feder eines Schriftstellers aus New Iberia – Burke himself.
Träume, Albträume, Halluzinationen, Filmsequenzen, eine gewaltige Verschwörung gegen die Menschheit, alles zusammengehalten von Burkes glühender Sprache.
9 Viper’s Dream
Eher nüchtern, trocken, im von Robert Brack einfühlsam ins Deutsche gebrachten Bebop-Sound ist Jake Lamars unglückliche Geschichte eines Mannes gehalten, der zur VIPER, dem Dope-Lieferanten der Harlemer Jazz-Szene aufsteigt. Dem es aber nie gelingt, seine große Liebe Yolanda, eine begnadete Jazz-Sängerin zu der Seinen zu machen. Nie weiß er, wo sie genau steht – bis es zu spät ist.
10 Die Lotsin (De Loods)
Über den Titel von Mathijs Deens vierten – und wie man hört, letzten – Roman um den deutsch-niederländischen Kommissar der Bundespolizei See Liewe Cupido habe ich lange nachgedacht.
Eine Lotsin kommt zwar kurz an Bord des Forschungsschiffs „Anthropocene“, von der die Glaciologin Iona verschwunden ist. Aber bis auf einen wichtigen Hinweis spielt sie in der Handlung keine Rolle, verschwindet nach einem Unfall im Krankenhaus.
Ist nicht vielmehr die Verschollene, die Hauptfigur Iona, als (gescheiterte) Lotsin zu verstehen? Als unzuverlässige, depressive, an sich selbst und mehr noch angesichts der wachsenden Klimakatastrophe an einer guten Zukunft zweifelnde Lotsin? Als eine Metapher für Verunsicherung. Zwar weiß sie, dass der Klimawandel sich immer schärfer zuspitzt, aber die Orientierung in der Umgebnung, die eine Lotsin haben muss, kommt ihr abhanden. Sie kommt beinahe im grönländischen Whiteout zu Tode, geistert nachts auf der „Anthropocene“ herum, mit ihrem Mann, Offizier an Bord, will sie nichts mehr zu tun haben, geht unter rätselhaften Umständen über Bord und hinterlässt außer E-Mails nur eine Flaschenpost, die eher ihre Stimmung erklären als den Fall lösen. DIE LOTSIN – ein Roman über die Sehnsucht nach einer kompetenten Lotsin und ihre Enttäuschung?
Den Fall löst der junge Polizist Xander, da Liewe sich um seine sterbende Mutter kümmern muss. Da beruhigt es fast, dass Ionas Tod sehr handfeste Ursachen hat.
Und wo gibt es die Krimibestenliste selbst?
Die KRIMIBESTENLISTE OKTOBER ist seit wegen dem Feiertag schon seit Donnerstag, dem 2. Oktober 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden.
Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt es auf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Einige Neuheiten auf der Krimibestenliste Oktober hat Kolja Mensing am Freitag, den 2.10., hier besprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Ausnahmsweise am Donnerstag, den 2. Oktober, hat Sonja Hartl über die Nummer eins der Krimibestenliste im Oktober Tödliche Transparenz gesprochen.
Diese und kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Oktober nebst hochinteressanten Rezensionen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
- Das aufregendste passiert in unserer Jury: Seit Oktober sind zwei neue Mitglieder hinzugestoßen:
Maria Wiesner ist Redakteurin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort koordiniert sie das Ressort Stil bei FAZ.NET, schreibt regelmäßig über Film und ist Mitglied im Team des Literaturpodcasts. Außerdem schreibt sie Krimikritiken auf der monatlichen Krimiseite des FAZ-Feuilletons.Maria Wiesner ist in Brandenburg aufgewachsen, studierte Germanistik, Italianistik und Journalistik in Dresden, Leipzig, Florenz und Reggio di Calabria. Vor ihrer Anstellung als Redakteurin schrieb sie Reportagen von Reisen nach Südosteuropa, Asien und Afrika. Sie veröffentlichte eine Sammlung mit Erlebnissen von Bahnfahrern (2019) sowie die Sachbücher „Alles in Ordnung“ (2021), in dem sie Aufräumen als Konsumtrend hinterfragt, und „Radikal selbstbestimmt“ (2022) über Alexandra Kollontai. 2023 veröffentlichte sie das Sachbuch „Jil Sander – Eine Annäherung“.
Dr. Wolfgang Brylla ist seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Zielona Góra in Westpolen. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft sind u.a. German Studies, Literatur im 20./21. Jahrhundert, Erzähltheorie und Kriminalliteratur. Er veröffentlichte u.a. „Layout des Rätsels oder: Wie das Geheimnis inszeniert wird. Narratologische Annotationen zu klassischen Detektivgeschichten.“ (2011), „Berlin als Raum. Hans Falladas erzählte Großstadt“ (2013) und zuletzt „Der polnische und deutschsprachige Retro-Krimi“ (2025) über zeitgenössische historische Kriminalromane. Wolfgang Brylla schreibt regelmäßig für das Crimemag in dem Onlinemagazin Culturmag https://culturmag.de/
Da Jurymitglied Prof. Dr. Jochen Vogt nach langer Krankheit im August 2025 verstorben ist, besteht die Jury der Krimibestenliste zur Zeit aus 18 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur. Es ist weltweit die einzige Jury einer Krimibestenliste, die nur aus Literaturkritikern besteht.
2. Zahlen und Moneten: Peter Hammans, langjähriger Lektor in einem Konzernverlag ergänzt meine statitistischen Werte zu Buchhandel und Krimis um folgendes:
„Die Buchbranche macht in Deutschland ziemlich konstant etwa 9 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. (Wenn man das in Relation zu, sagen wir mal, Aldi Süd, einem einzigen Discounter nur, setzt, der bei rund 50 Milliarden Euro liegt oder sogar mehr, dann wird einem bewusst, welch zartes Pflänzchen das eigentlich ist.)
Die Belletristik macht, grob überschlagen, davon also ca. 3 Mrd. Euro aus, und davon wiederum gut 21 % für die Spannung ergibt einen Jahresumsatz von ca. 630 Millionen Euro für diese Warengruppe. Roundabout. Von diesen 630 Mios macht ein Fitzek allein mit einem einzigen Thriller bereits ca. 30 Millionen Euro. Und es gibt ja noch ein paar andere Dickschiffe…“