Liz Nugent erzählt von einer toxischen Familie in Dublin
Wer war’s? Bis zum Überdruss lassen sich 08/15-Krimis von dieser Frage treiben – und ein Millionenpublikum mit ihnen.
Liz Nugent, 1967 in Dublin geboren, dreht den vertrauten Krimispieß um. Ihr vierter Kriminalroman KLEINE GRAUSAMKEITEN beginnt so: „Alle drei Drumm-Brüder waren auf der Beerdigung, einer von uns allerdings im Sarg.“ Von da an, bis zum verblüffenden Ende, rätseln die Leser, welcher der drei Brüder zum Opfer werden könnte und welcher zum Täter.
Aus der Perspektive der drei Brüder entfaltet Nugent das Drama einer mittelständischen Dubliner Familie. Deren Binnenbeziehungen als dysfunktional zu beschreiben wäre ein Euphemismus. „Toxisch“ träfe es besser. Aber das schält sich erst nach und nach heraus.
Das Zentralgestirn der Drumm-Familie ist die narzisstische Mutter, eine Showsängerin und Schauspielerin. Alles muss sich um sie drehen, und vier Männer – der stille Ehemann, der erstgeborene Macho William, der auf Ausgleich bedachte Brian und Luke, das psychisch labile Nesthäkchen – umkreisen sie eifersüchtig, immer auf der Hut vor ihrem leicht zu erregenden Zorn.
Alle sind, bis auf den ausgleichenden Vater, Egozentriker, völlig unfähig, andere Menschen anders als unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit zu sehen. William und Brian rivalisieren darum, Williams Frau Susan „zu besitzen“. Alle drei möchten Susans Tochter Daisy beschützen und sie dem verderblichen Einfluss der jeweils anderen Brüder entziehen. Es ist eine Familienhölle sich bekämpfender Ich-Krüppel, die sich nach und nach auftut.
Befeuert wird sie zusätzlich durch die Welt des Showbusiness, in der die Mutter und ihre Söhne ihr Geld verdienen. Will wird Filmproduzent, Luke wird schon mit 19 zum Popstar katapultiert, und Brian versucht als Manager, jene abzuzocken, die kreativer sind als er.
Liz Nugent lässt die drei Rivalen ihre jeweilige Geschichte in Zeitsprüngen erzählen, mal aus der Erwachsenen-, mal aus der Kinderperspektive. Nicht Chronologie regiert Nugents Komposition, sondern eine analytische Verdichtung der Spannung. Nach und nach zeigt sich dem Leser, wie und warum es zum tödlichen Konflikt kam. Englische und irische Kritiker haben Nugents psychologische Sezierweise mit Ruth Rendell aka Barbara Vine und Patricia Highsmith verglichen. Da ist was dran.
Liz Nugent: Kleine Grausamkeiten
Aus dem Engl. v. Kathrin Razum
Steidl 400 Seiten
Dieser Artikel wurde zuerst in der ZEIT Nr. 49 am 2.12.2021 veröffentlicht