Fünf neue Titel: je einer aus den USA, Italien und Schottland, zwei aus Deutschland. Die Schauplätze: Trapezunt, Van, Baku, Rom und Umgebung, Glasgow, Dunoon, „Sandesiel“, Dresden, „Unterlingen“.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und acht Monaten.
Neu auf Platz Eins im Oktober:
Auffallend bei den Neuzugängen der Krimibestenliste Oktober: Zwei deutsche Debüts – Boston Teran, vermutlich aus Boston, und Thomas Knüwer aus Hamburg. Außerdem spielt bei den neuen Titeln aus Deutschland (selten!) Wasser eine wichtige Rolle. Ein alter Bekannter startet durch mit seinem allerersten Roman, der Titel ist eine Hommage an das geliebte Schwarz. Und dann spielen die Kriege auch noch eine Rolle: der Bürgerkrieg in Irland und der im Schatten des Ersten Weltkriegs betriebene türkische Genozid an den Armeniern.
Neu auf der Krimibestenliste Oktober:
3 Gärten der Trauer (Gardens of Grief)
In den USA ist der geheimnisvoll unter Pseudonym schreibende Bostan Teran schon länger ein verehrter Autor. Sein Erstling von 1999 GOD IS A BULLET über die Suche eines Polizisten und einer Ex-Junkie nach der von einem Satanskult entführten Tochter des Cops ist in den USA Kult und wurde 2023 verfilmt.
Eines der großen Themen Terans ist die dunkle Seite der Geschichte – nicht nur die der Vereinigten Staaten, der er mehrere Bände gewidmet hat. In DIE GÄRTEN DER TRAUER schickt er den gebürtigen Mexikaner John Lourdes (eine Art Serienheld in verschiedenen Büchern Terans), der für das Texas Bureau of Investigations tätig ist, als Kurier, Agent, Mittelsmann in die Türkei, damals noch Osmanisches Reich, und dort nach Armenien. Neben Cleverness und Entschlossenheit, prädestiniert ihn sein Hintergrund für die Mission. „Der Umstand, dass Sie kein Weißer sind“, reibt ihm sein Chef unter die Nase.
Für den lakonischen, den Lesern hohe Aufmerksamkeit abverlangenden Stil Terans kennzeichnend: Dieser „Umstand“ wird auf 225 Romanseiten nur dreimal erwähnt. Überhaupt sollte man hin und wieder ein Lexikon zu Rate ziehen, denn Teran schreibt hautnah und sehr wenig überblicksmäßig einordnend über den als „Umsiedlung“ euphemisierten Massenmord an den Armeniern, in den Lourdes gerät. Personifizierung des Leides und des Widerstandsgeistes der Armenier ist der Priester Malek, dem seine Folterer Hufeisen an die Füße genagelt haben, bevor sie ihn öffentlich an einen Pfahl ketteten. Gejagt vom stiefelknallenden Rittmeister Franke samt Hilfstruppen, befreit Lourdes den Priester und flüchtet nach Baku. Panorama im Hintergrund: Menschen auf dem Todesmarsch, brennende Ölfelder, Geheimdienstintrigen.
Mit seiner Wucht, seiner Lakonie und seiner Western-Ästhetik schafft Teran ein historisches Wetterleuchten, so intensiv, dass es Schreckensbilder der Massenmorde evoziert, die in den über hundert Jahren seit dem von dem türkischen Staat immer noch verleugneten Genozid
angestellt worden sind. Terans Version kann neben Franz Werfels großem Armenienroman DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH bestehen.
Der Elsinor-Verlag und Herausgeber Martin
Compart haben mit DIE GÄRTEN DER TRAUER eine deutsche Ausgabe Boston
Terans begonnen, ein guter, aktueller Griff: Denn das industrielle Karbon-Zeitalter
ist noch nicht beendet. Und wird in Flammen weitergehen.
Katrin Doerksen hat am 4. Oktober im Deutschlandfunk Kultur DIE GÄRTEN DER TRAUER besprochen.
8 Die April-Toten (The April Dead)
Der Glasgower Autor und ehemalige Musikmanager Alan Parks (*1963) hat sich vorgenommen, über seine Heimatstadt zwölf Kriminalromane zu schreiben, in denen jeweils der Name des entsprechenden Monats im Titel auftaucht. Folglich ist DIE APRIL-TOTEN Nummer vier der Serie und startet mit einem Thema, das Lesern schottischer Krimis nur allzu vertraut ist: (Unterdrückte) Homosexualität und Schuld. Erstmals (und gültig weit über die 1970er Jahre hinaus) thematisiert von William McIlvanney in LAIDLAW. Streckenweise, vor allem zu Beginn, fühlt man sich bei Parks in einem schwachen Abklatsch dieses Meilensteins der europäischen Kriminalliteratur.
Inzwischen wird McIlvanney als Begründer der touristischen Marke „Tartan Noir“ gefeiert, und kaum jemand kennt noch sein bahnbrechendes Werk.
Darin bezichtigt sich der verwirrte schwule Junge, der eine Frau vergewaltigt und getötet hat, um sich als Hetero zu beweisen: „Du bist ein Ungeheuer. Wie konntest du das nur so lange vor dir selbst verbergen?“ Monster und Homosexualität sind auch die Stichworte bei Parks. Die er aber aus heutiger Perspektive beeinflusst sowohl weniger verfemt (Homosexualität) als auch horrorpolitischer (Monster) gestaltet als sein Vorbild McIlvanney.
Lesen Sie dazu Hanspeter Eggenbergers Rezension der APRIL-TOTEN In seinem immer wieder erleuchtenden Blog krimikritik.com.
6 Schwarz wie das Herz (Nero come il cuore)
Bei der Lektüre von SCHWARZ WIE DAS HERZ wurde ich häufig daran erinnert, wie mir Giancarlo De Cataldo 2012 in seinem nahe des Vatikans gelegenen Wohnzimmer von seinen Jahren als Jungrichter erzählte, der für einen großen Teil Latiums zuständig war. Von den stinkigen Kabuffs, die man ihm zum Verhör von Insassen in den diversen Gefängnissen überließ, oft sogar ohne Telefon, weil er schneller zu den Delinquenten kam, wenn er sie im Knast aufsuchte, als sie nach Rom transportieren zu lassen; wie er die dazu gehörigen Akten auf der Rückbank seines Kleinwagens transportierte; und wie er auf seinen Fahrten davon träumte, DJ, Regisseur oder zumindest Filmkritiker sein zu können.
Wut auf die erniedrigenden Bedingungen eines Justizapparats, der sehr viel anderem diente als der Gerechtigkeit, intellektuelle Verachtung der Bourgeoisie, die sich in Bereicherung und Konsumismus wälzt – viel davon schwingt in Anwalt Bruios Erzählerstimme in Cataldos Erstling SCHWARZ WIE DAS HERZ mit. Erschienen erstmals 1989, da war Cataldo dreiundreißig. Die erste deutsche Version, die jetzt vorliegt, basiert auf der vom Autor aktualisierten Ausgabe von 2016.
Schwankend zwischen jugendlicher Leidenschaft zur schönsten Frau der Welt aus dem italienischen Geldadel, der Verlockung, sich dort zu prostituieren, und der Solidarität mit den Ärmsten, den Schwarzen Einwanderern, ermittelt sich Bruio mit Unterstützung der Schwarzen Community und eines anständigen Komissars in das skrupellose schwarze Herz der Bourgeoisie. Die mordet – um zu überleben. Wozu denn sonst?
9 Hinterm Deich
„Kommissar ist ein Beruf, kein hysterischer Zustand“, hat Matthias Wittekindt 2022 im Interview zu Sylvia Staude gesagt. Damit ist die spezifische Differenz zum gewöhnlichen Krimi markiert, mit der sein Kriminaldirektor a. D. Manz sich den Erinnerungen an seine alten Fälle geruhsam und genau widmet. Diesmal ist er an einem Endpunkt, seinem fünften Roman angelangt, und das ist zugleich sein Anfangspunkt.
HINTERM DEICH an der Nordseeküste lernt der junge Manz, seine Fähigkeiten auszutarieren, lernt, worauf es ankommt in der Kriminalistik, und lernt die Liebe seines Lebens kennen. Sylvia Staude hat auch diesen Roman mit Vergnügen gelesen. Ihr Fazit: „Gemütlich, gar ‚cosy crime‘ sind Wittekindts Romane nicht. Dazu ist sein Manz ein zu präzise-scharfer Beobachter. ‚Hinterm Deich‘ liegt kein Weichzeichner über Menschen und Landschaft.“
Apropos Anfang und Ende: Mit diesem Roman beendet Wittekindt seine Serie über den Kriminaldirektor a. D., aber nicht die Beschäftigung mit dieser Figur. Geben die fünf Bände der Manz-Serie Einblick in Berufstätigkeit und Familie von Manz, sollen (aus der Arbeitsküche geplaudert) drei weitere geplante Bände sich mit Tochter Julia beschäftigen. Sie steht als Richterin in der Mitte des Lebens und betrachtet Verbrechen aus der Warte der Juristin. Neben die Perspektiven des Ermittlers und der Juristin soll noch die des Journalisten kommen: Enkel Matti hat gerade sein Volontariat beendet. Verbrechen aus drei professionellen Blickwinkeln.
Ein großes Projekt. Neben anderen literarischen Gesellschafts-Tableaus (Balzac, Zola) greift Wittekindt damit auch eine Idee der Kriminalliteratur-Forschung auf, in der versucht wurde, die Detektiverzählung des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort „Detektion als Arbeit“, gewissermaßen als Sinnstiftungstexte des Ermittlerberufs zu lesen. Wir lesen gespannt erstmal HINTERM DEICH.
10 Das Haus in dem Gudelia stirbt
Zugegeben, schwierig war das nicht: Als hätte er diesen Sommer vorausgesehen, lässt Thomas Knüwer sein Debüt DAS HAUS IN DEM GUDELIA STIRBT im Juni 2024mit einer gewaltigen Überschwemmung beginnen. Alle Bewohner sind aus dem fiktiven Dorf Unterlingen – Supermarkt, Kirche, Friedhof – geflohen, nur die 81-jähige Gudelia nicht. Nicht, weil sie gebrechlich wäre, die Alte erweist sich als ziemlich tatkräftig, sondern weil in ihrem zweistöckigen Haus ein Geheimnis verborgen ist. Sie sieht aus ihrem Wohnzimmerfenster zwei aneinander gefesselte Leichen vorbeitreiben; ein überlebendes Ferkel, das sie Stephanus tauft, wird in den Überflutungstagen ihr Gefährte sein, während Häuser, Friedhof und Dorfstraßen sich mit hunderten Schweineleichen aus dem ortsbeherrschenden Mastbetrieb füllen.
Schon dieses drastische Einangsszenario, dem nur noch ein ebenso modischer wie grauslicher Prolog vorangestellt ist, verrät, dass Knüwer mehr im Sinn hatte, als einen Krimi von der Stange zu verfassen. Zum Leserglück bewahrheitet sich die Ambition auf den folgenden knapp 300 Seiten: Klug konstruiert entfaltet Knüwer über Jahre hinweg die Schrecken einer Alkoholikerehe und einer obsessiven Mutterliebe, die von ihrem Sohn nicht lassen kann, obwohl der vor vierzig Jahren in einem Wassergraben scheinbar ertrunken ist. „Schuld schwimmt oben“ – mit diesem dritten Satz intoniert Knüwer, der im Hauptberuf eine Agentur für „digitale Strategieberatung“ leitet, die Grundstimmung des Romans. Wie Schuld nach oben treibt, und in der allgemeinen Katastrophe das offenbart, was oft allzu leichtfertig eine „menschliche“ Katastrophe benannt wird. Die fest im Volksglauben verwurzelte Gudelia stirbt. Ein Debüt, das mir den Atem verschlagen hat: Eine Überflutung bringt es an den Tag.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE OKTOBER?
Die KRIMIBESTENLISTE OKTOBER ist seit Freitag, dem 6. Oktober 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste Oktober und seine Favoriten darin gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 4. Oktober hat Katrin Doerksen über die Nummer drei der Krimibestenliste Oktober, den höchsten Neueinstieg DIE GÄRTEN DER TRAUER gesprochen.
Kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Wenn Sie nach der Krimibestenliste suchen, geben Sie einfach den Link zu dieser Seite ein. Meist weit oben finden Sie eine unterstrichene Zeile. Das ist der Link, den Sie anklicken müssen, um die zweiseitige Textversion der Krimibestenliste mit Abbildungen der Cover, bibliographischen Angaben und Kommentaren zu den zehn besten Krimis des Monats zu finden, die meist von mir verfasst sind:
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Oktober nebst hochinteressanten Rezensionen nicht nur zu den Titeln der Krimibestenliste.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
1
3-Sat darf nicht abgewickelt werden. Ca.24.000 Personen haben die Petition gegen die Pläne der Rundfunkoberen bereits unterschrieben.
2
Edition Nautilus unterstützen. Bereits vor einem Monat hat die Edition Nautilus, bekannt für besondere Krimis, aufrüttelnde Texte und tolle Romane diese Bitte um Unterstützung erfolgreich lanciert.
3
Dror Mishani, dem wir die wunderbaren Kriminalromane aus Israel um Avi Avraham verdanken, hat nach dem Massaker vom 7. Oktober ein beeindruckendes Tagebuch verfasst über seine Gefühle, Erfahrungen und Reflexionen.
4
Fabio Stassi hat den belesenen Detetiv Vince Corso erfunden, der als Bibliotherapeut Bücher für alle Seelenlagen empfiehlt. Stasi hat gerade den Hermann-Kesten-Preis bekommen. Jetzt ist in der Edition Converso sein essay zur heilenden Kraft der Dichtkunst erschienen: ICH, JA ICH WERD‘ SORGE TRAGEN FÜR DICH
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Herbsttage!
Ihr Tobias Gohlis