Friedrich Anis vierter Tabor-Süden-Roman
Der Tod ist nur eine Art von Verschwinden. Ein Mensch wird umgebracht, und die, die trauern, sind von da an Hinterbliebene. Sie starren in ein Loch, das sich nie wieder schließen wird. Kriminalromane zehren von der Unausweichlichkeit dieser Faszination. Deshalb handeln sie fast immer von Mord. Wie kann ein Krimi sich diesem Regelzwang entziehen und doch vor existenzieller Spannung vibrieren?
Das ist mit die größte Herausforderung an die Kreativität der Autoren. Faszinierend und in mehrfacher Hinsicht außerordentlich ist die Lösung, die der Münchner Friedrich Ani mit seinen Romanen um Hauptkommissar Tabor Süden gefunden hat.
„ Und Sie heißen tatsächlich Tabor Süden?’ Wollen Sies noch mal lesen?’ Süden wie Norden?’ ,Wie Norden, Osten und Westen.’“
Als Ani Süden mit Vornamen Tabor nannte, ging er vom Klang aus, die religionsgeschichtlichen Bezüge waren ihm noch unbekannt. Tabor ist der Berg der Verklärung Jesu, nach Tabor nannte sich auch eine radikale Fraktion der böhmischen Hussiten, die im 15. Jahrhundert das Reich Gottes jetzt und gleich mit dem Schwert errichten wollten. Das will Tabor Süden nicht, er ist ein sanfter Mensch. So stellt er bei seinen Ermittlungen ganz ungern Fragen, lieber mag er es, wenn die Leute von sich aus erzählen. „Ich verhöre nicht, ich vernehme.“ Und doch hat seine Arbeit viel mit Erlösung zu tun, ganz irdisch.
Vermissungen sind Tabors Fall
Das Kommissariat 114 im Münchner Dezernat 11 ist für Vermisstenfälle zuständig, genauer: für „Vermissungen“. Damit sind nicht „Hupfauf-Vermissungen“ gemeint: Vater geht Zigaretten holen, quatscht eine Frau und kehrt nach drei Tagen reumütig heim. Bei Vermissungen geht es darum, so rasch wie möglich Suizid, tödlichen Unfall oder Gewaltverbrechen auszuschließen.
Eine geniale Idee: Vermissungen müssen nicht endgültig sein wie der Tod.
Süden über eine neue Kollegin: „Wie ich verbrachte sie einige Jahre beim Mord, bis sie eine gewisse Sehnsucht nach dem Schicksal von Lebenden verspürte.“ Die Hoffnung, am Ende der Ermittlungen keine Leiche, sondern jemanden gefunden zu haben, der einen Ausweg in ein zweites Leben gefunden hat, macht aus Anis Beamten hin und wieder romantische Sucher.
Kein Hinweis bei VERMI/UTOT
So ist es auch in Südens vierter Ermittlung. Seit zehn Jahren ist Soraya schon aus München verschwunden, nicht einmal in der „VERMI/UTOT-Datei beim BKA“ findet sich einen Hinweis auf die betörende Frau, die nicht nur dem Namen nach einer Kaiserin ähnelte. Soraya Roos gehört zu den seltenen Fällen, die nicht nur vermisst, sondern auch verschollen sind. Das heißt: Sie muss in nächster Zukunft für tot erklärt werden. Doch bei der Leiche eines Mannes, der verhungert in einem Abbruchhaus aufgefunden wird, finden sich neue Hinweise. Wie vor Jahren werden der Vater der Verschollenen und ehemalige Liebhaber befragt, ihre widerspenstig revidierten Aussagen führen in ein Dorf im Friaul. Dort findet Süden die Lösung; nebenbei auch für jenen Fall, der im ersten Satz dieses grandiosen Romans anklingt: „Es war die blutigste Nacht, die das Dorf je erlebt hatte.“
Ani ist der Schubert der deutschen Kriminalliteratur
Alles Täuschung: Anis Kunst benötigt grelle Schockeffekte nur zum Spiel mit dem Leser. Vergleichbar nur mit den ganz großen Seelenkundlern und Stimmungsaquarellisten, mit Simenon, mit Highsmith, mit Glauser (ich weiß, was ich sage: hier wird kein Klappentext gesprochen) durchspürt Ani jene Tiefenzonen, aus denen Träume zu schrecklichen Taten werden: zu Selbstzerstörung, Mordraserei, tödlicher Gleichgültigkeit.
In Süden und das Geheimnis der Königin gelingt es ihm, unverschwiemelte, genaue Worte für eine der abgründigsten erotischen Verlockungen zu finden – die gelebte Liebe zwischen Vater und Tochter. Wie er diese Geschichte zwischen den Anforderungen von Moral und Gesetz, Wahrhaftigkeit des Empfindens, Lust und Abscheu irritierend und provozierend in der Schwebe hält, macht ihm so zur Zeit keiner nach. Bis in die kleinste Faser einer Nebenbemerkung ist Anis Sprache wach. Eine Kollegin hält Süden mehrmals vor, er nehme den Anblick von Leichen zu persönlich. „Ich bin ein persönlicher Polizist“, entgegnet er. Und Friedrich Ani ist ein persönlicher Autor. Ani nutzt die Erkundungen zwischen Tod und Leben, um die seelischen Grenzbereiche der Moral auszuloten, das Genre eröffnet ihm – und uns – hierzu den Weg.
Mit seiner kammermusikalisch austarierten Komposition der Stimmen, mit seiner feinen Stimmungs- und Gefühlssensorik ist Ani der Schubert der deutschen Kriminalliteratur.
Süden und das Geheimnis der Königin.
Droemer Knaur, München 2002, 204 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT 49, 28.11.2002