Sechs Titel sind neu: Drei aus den Vereinigten Staaten, zwei aus Großbritannien und einer aus Italien. Die Schauplätze: New Orleans, Turin, „Casalforte“, „Buckeye City“, Norfolk, Newcastle, „Taggard“, Arkansas.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und fünf Monaten.
Und über den kollaboratorischen Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.

„Aus dem Englischen“ übersetzt sind fünf der sechs Neuen – immer noch dominiert die angloamerikanische Kriminalliteratur das Angebot. Nur ein Italiener sorgt für die – sonst übliche – internationale Streuung. Gestern war der bisher heißeste Tag des Jahres, daher habe ich nur wenig Gehirmschmalz aufbringen können.
Neu auf Platz Eins im Juli:
1 Smiley (Karla’s Choice)
Nick Harkaways Fortführung der Karla-Serie seines Vaters John le Carrés überzeugt.
Neu auf der Krimibestenliste Juli:
4 Das grenzgeniale Pseudokidnapping (The Genuine, Imitation, Plastic Kidnapping)
„Edgerton (1943–2023) war bei der US Navy und saß in den Sechzigerjahren wegen Einbruchs, bewaffneten Raubüberfalls und versuchter Hehlerei zwei Jahre in der Strafanstalt von Pendleton, Indiana. ‚Jetzt bin ich sauber, und Sie können mich zu sich nach Hause einladen, ohne dass Sie das Silberbesteck zählen müssen, wenn ich gehe‘, schrieb er einmal selbstironisch in seinem Blog. Nach dem Knast studierte er, schrieb rund zwanzig Bücher lehrte kreatives Schreiben an der Universität und gab Privatunterricht für Schriftsteller. 2016 hatte Pulp Master schon seinen „Der Vergewaltiger“ auf Deutsch publiziert. Edgerton starb im August 2023 an einer Covid-19-Erkrankung.“ (Hanspeter Eggenberger im Crimemag)
Der Ich-Erzähler Pete Halliday ist auf dem absteigenden Ast. Ein Spieler und Loser. Aus der ersten Baseball-Liga wird er gefeuert wegen Betrugs, nun muss er sehen, wie er Geld auftreibt, um Schulden und weitere Wetten zu finanzieren. Dabei dient sich ihm Tommy LeClerc als Partner an. Er hält sich für schlauer als die Weißbrote: „Pete, ich bin halber Indianer. Halb Pawnee, halb Cherokee und halb Franzose. Zehn Prozent Deutscher. Als Indianer habe ich einzigartige Fähigkeiten. Zum Beispiel kann ich die menschliche Natur lesen wie eine Wildfährte.“
Tommy heckt die supertolle Idee aus, den Boss der Cajun-Mafia zu entführen. Und zwar seine Hand. Die soll abgesäbelt, eingefroren und gegen Lösegeld, das der Mafiososo selbst besorgen soll, rückerstattet werden. Denn: Der gefährlichste Moment bei einer Entführung ist die Lösegeldübergabe, und der wird so vermieden.
Pete lässt sich auf den Plan ein, verliebt sich in eine superschlaue Halbzeitprostituierte und verkackt doch beinahe alles. Edgerton legt mit Das grenzgeniale Pseudo-Kidnapping eine amüsante, etwas weitschweifig erzählte Noir-Groteske vor, voller bizarrer Einfälle und märchenhafter Geschehnisse. Zuletzt besinnt sich Pete auf seine einzige Fähigkeit, einen Eightball perfekt zu werden, und das ist seine Rettung.
5 Ländliches Requiem (Requiem di provincia)
Davide Longo (*in Carmagnola bei Turin) hat mit dem genial versponnenen Corso Bramard, der es trotz unstandesgmäßer Bekleidung mit 33 zum jüngsten Commissario Italiens gebracht hat, und seinem geerdeteren Sidecick Ispettore Arcadipane noch einmal ein spannendes Ermittlerduo geschaffen, dessen Fälle so verschroben und brillant sind, dass sie es bisher alle vier auf die Krimibestenliste geschafft haben: von Der Fall Bramard 2015 bis zuletzt Am Samstag wird abgerechnet 2024.
LÄNDLICHES REQUIEM ist nun der fünfte Band und führt zurück in das Jahr 1987, als das Duo noch nicht richtig eingespielt ist. Dieses Prequel fällt in puncto Originalität des Plots etwas gegenüber den ersten vieren ab. Die leitenden Vorgesetzten geben sich mit der einfachsten Erklärung für den Mordanschlag auf den Manager Delarue ab (politisches Attentat, obwohl er als fürsorglicher Chef galt, der den Arbeitern wohlgesonnen ist). Und auch die Hintergründe (ein Herrenclub aus höchsten Kreisen mit einer sehr speziellen Form der Knabenliebe) ist nicht gerade der Spitzeneinfall. Was aber überzeugt, ist die Langwierigkeit der Suche, sind die qualvollen Umwege, die die beiden Ermittler zurücklegen müssen, bis sie auf die unerwarteten Täter kommen.
6 Kein Zurück (Never Flinch)
Auch hier handelt es sich um eine Serienfigur. Stephen King hat sich seit MR.MERCEDES (2014) immer stärker vom Horrorgenre ab- und dem Krimigenre zugewandt. In diesem ersten Band der Trilogie um Bill Hodges war die stille, von Selbstzweifeln geplagte ergrauende Lady mittleren Alters Holly Gibney noch eine Nebenfigur, seit DER OUTSIDER (2018) steht sie im Mittelpunkt.
In Kein Zurück, dem inzwischen dritten Band mit ihr, wird die Privatdetektivin doppelt gefordert: Ihre Polizeifreundin Izzy teilt ihr die Drohung eines Mörders mit, 13 zufällige Unschuldige zu töten, bis dann der Schuldige umgebracht wird. Und sie wird, nach ersten Attacken eines anonymen Stalkers, als Bodyguard für Kate Mckay engagiert. Die Feministin stellt ihr neues Buch vor, in dem sie für das Recht auf Abtreibung wirbt. Zu allem Überfluß kommt an dem Tag, an dem KcKay im fiktiven Buckeye City in der Nähe von Cleveland auftreten will, auch noch der Soul-Altstar Sista Bessie in die Stadt. Und das traditionelle Softball-Turnier zwischen Polizei und Feuerwehr findet statt.
Zwischen all dem müssen Holly Gibney und ihre Freunde Ordnung schaffen und vor allem herausfinden, von wem denn die Bedrohungen ausgehen. Der Serienkiller will die in der amerikanischen Rechtsprechung zumindest theoretisch gültige Formel des britischen Rechtssphilosophen Blackstone in ihr Gegenteil verkehren. Sie lautet „Es ist besser, dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird.“ Ähnlich, aber anders problematisch ist der andere Killer: Angeheizt vom Pfarrer seiner Gemeinde will er die Feminisitin töten, ist sich aber nicht sicher, ob er Christopher oder seine tote Zwillingsschwester Chrissy ist.
King lässt Gesinnungstäter auf andere losgehen, der Zustand der USA ist abzulesen an der Schlägerei, die sich die beiden Schutzmächte Feuerwehr und Polizei liefern, statt miteinander nach den Regeln zu spielen.
7 Das Nest (Bird Spotting in a Small Town)
DAS NEST ist Sophie Morton-Thomas‘ zweites Buch. Es spielt in Norfolk in der Randzone einer namenlosen kleinen Küstenstadt, wo sich ein Campingplatz mit Wohnheimen und eine Sippe Roma angesiedelt haben. Beide verbinden nur lose Wurzeln mit der kleinen Stadt des englischen Titels. Die Roma reparieren alles, was in kurzen Arbeitseinsätzen zu löten ist. Die präpubertären Kinder der beiden Familien, die auch im Winter und Frühjahr fest in der Wohnheimsiedlung hausen, besuchen dort die Grundschule, spielen aber lieber im Wald, im Marschland und am Meer. Das ist auch das eigentliche Gebiet, das die Sehnsüchte und Träume fesselt. Was für die Kinder Spiel- und Jagdgelände ist für den jungen Rom Charlie und Fran, die Besitzerin des Trailerparks, Raum für Vogelbeobachtung. Sie alle konzentrieren ihre Aufmerksamkeit, Sehnsüchte und Schutzinstinkte auf das Nest und Gelege einer seltenen Seeschwalbenart.
Lange ergeht sich der Roman in den Schwärmereien der verschiedenen Vogelbeobachter und ihren diversen Vermutungen über das Tun anderer, bis sich in der zweiten Hälfte die Handlung beschleunigt. Zeitgleich sind die von den Kindern verhasste Lehrerin und Ellis, ehemals alkoholkranker Schwager der unzuverlässigen Erzählerin Fran, verschwunden. Als die Lehrerin erschlagen in der Vogelbeobachtungshütte Frans gefunden wird, werden die Roma verdächtigt (das bringt dem Roman den lobenden Blurb ein, „er stelle Vorurteile infrage“ – was immer das sein soll) und der abwesende Schwager.
Frans zunehmend unzuverlässige Darstellungen werden durch Beobachtungen des alten Roms Tad, der zwar kaum mehr laufen kann, sich aber der verwahrlosten und hilfsbedürftigen Kinder annimmt, ergänzt. Aber auch sie verdunkeln eher das Geschehen, das allerhand Unheil (geköpfte Vögel, gestohlene Gelege) anhäuft.
Die Auflösung ist gelinde gesagt überraschend, die Stärke von DAS NEST liegt in der unheimlich-düsteren Atmosphäre, die alles erwarten lässt, auch das Unerwartete.
8 Boy Parts
„Verführerisch und verstörend“ nennt Marcus Müntefering im Spiegel die Lektüre von Eliza Clarks BOY PARTS. Fünf Jahre ist es her, dass die Verkäuferin Clark aus ihrem Apple-Store ans grelle Licht der Berühmtheit trat. Auf Tiktok ging ihr Debüt viral.
Ex-Kunststudentin und Fetisch-Fotografin Irina Sturges wird angeboten, an einer Ausstellung in London teilzunehmen. Sie rekapituliert in Boy Parts ihre Entwicklung und ihre Affären, ein Delirium aus Drogen, Sex und Fotografie. Spezialisiert ist sie künstlerisch / pornografisch auf die titelgebenden Boy Parts, wobei sie sich auf durchschnittliche schwabbelige Männer als Models konzentriert, die sie meist auf der Straße aufgabelt.
Müntefering zieht in seiner Rezension Parallelen zu Brett Easton Ellis und Ottessa Moshfegh. Ein düsteres Bild einer ziel- und sinnlosen Jugend, der nicht einmal Mord den befriedigenden Kick verschafft, auch nicht die (exzessiv wiedergegebenen) Posts in den Sozialen Medien.
Eliza Clark lebt inzwischen in London, arbeitet als Creative Writing Facilitator für junge Leute in der Arvon-Foundation, wurde bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert und hat seit 2020 zwei weitere Bücher veröffentlicht. Sonja Hartls Rezension von Boy Parts hier.
9 Ozark Dogs
Bisher zwei Romane des ehemaligen Football-Profis Eli Cranor sind auf deutsch erschienen. BIS AUFS BLUT (2024) stand gleich auf der Krimibestenliste, jetzt folgt, wieder mit Football-Anspielungen, OZARK DOGS.
In „Taggard“ (nur minimal verschieden von Cranors Geburtsort Russelville) leben der siebzigjährige Vietnamveteran Jeremiah und dessen Enkelin Jo (siebzehn, beinahe achtzehn) auf einem Schrottplatz. Jos Eltern sind aus der puritianischen guten Gesellschaft verschwunden: der Vater, dem Jo unabgesendete Briefe schreibt, sitzt im Knast, die Mutter ist zwischen Jeremiah und ihr No-go-Thema. Sie ist Meth-abhängig und prostituiert sich.
Verfeindet sind sie mit der Ledford-Familie, deren Sohn Rudnick mit Jos Vater um Jos Mutter rivalisierte. Aus Rache für seinen getöteten Bruder und um die Geschäfte seiner verarmten Familie in die Gewinnzone zu bugsieren, entführt Evail Ledford Jo, um sie bei seinen mexikanischen Lieferanten gegen 50 Pfund Meth einzutauschen.
Der blutige Kampf um Jos Befreiung wird zur Familienfehde antiken Ausmaßes. Erstaunlich, welche emotionale Funken Cranor aus dem eigentlich konventionellen Hinterwäldlerstoff schägt. Lesen Sie hierzu Hanspeter Eggenbergers Rezension auf Crimemag.
Wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE JULI?
Die KRIMIBESTENLISTE JULI ist seit Freitag, dem 4. Juli 2025, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden. Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt esauf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Die Neuigkeiten auf der Krimibestenliste Juli hat Kolja Mensing am Freitag, den 4.7., hier besprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 4. Juli hat Sonja Hartl über die Nummer acht der Krimibestenliste im Juli BOY PARTS gesprochen.
Diese und kommende Rezensionen zu den Krimis der Bestenliste wie auch zu anderen Büchern sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Juli nebst hochinteressanten Rezensionen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.