Henk Apotheker beherrscht in AYSE IST WEG die Kunst des Mitleids
„Mein Kind. Mädchen. Nicht zu Haus.“ Das Entsetzen beginnt mit den ersten Zeilen, radebrechend. Verstört meldet ein Vater, dass sein Kind verschwunden ist. Ayse ist vier Jahre alt. Sie sollte zum Spielen auf die Straße. Statt auf die Kleine aufzupassen, ist der Vater zum Geldspielautomaten gegangen. Der diensthabende Revierpolizist ist genervt: „Wieder so ein Ausländer, der nicht richtig Niederländisch konnte.“ Er verdreht die Augen. Soll er etwa alle diese Fremdsprachen verstehen?
Arnhem ist Rostock ist Mölln ist Solingen. Das denkt sich wie im blinden Reflex. Doch Ayse ist weg unterläuft sehr geruhsam, sehr entschieden rechte wie linke Klischees. Henk Apotheker, der hier seinen dritten Kriminalroman vorlegt, ist kein Mann, der sich festlegen ließe. Er war Kraker, so heißen die Hausbesetzer in den Niederlanden, dann Mitarbeiter eines Piratensenders. Sein erster Krimi spielte denn auch in der Hausbesetzerszene Arnhems, schade, dass er noch nicht auf Deutsch zu haben ist. Denn Apotheker schreibt keine Sozialkritik aus der Konserve, seine Helden sind keine Sozialarbeiter, auch nicht im übertragenen Sinn. Deren Berufsethos lautet: alles verstehen, alles billigen. Peter Kressen, Apothekers Kommissar, versteht hingegen nichts. Das hält den Kopf frei für gute Fragen. Ansonsten denkt er eher an den Kauf einer neuen Krawatte als ans Elend der Ausländer. Was ihn nicht hindert, im Fall der kleinen Ayse sehr behutsam vorzugehen.
Gibt es einen Fall?
Zunächst ist es jedoch unklar, ob es überhaupt einen Fall Ayse gibt. Das Mädchen ist weg, und die türkischen Männer des Viertels bilden Mauern des Schweigens. Noch bevor die Polizei mit der systematischen Suche begonnen hat, bringt Onkel Bayram alles unter Kontrolle. „Wir Türken. Wir erledigen selbst.“ Wie rivalisierende Truppenteile belauern sich Türkenmänner und Polizeimänner, während sie die Umgebung der Siedlung durchkämmen. Jeder Kontakt kann eine Katastrophe auslösen.
Wo gestochert wird, findet sich etwas. Statt Ayse tauchen Gerüchte, Verdächtigungen, fallengelassene Spuren auf. Vor zwei Jahren wurde ein anderes türkisches Mädchen vermisst. Auch hier spielte Onkel Bayram eine undurchsichtige Rolle. Hefte mit Kinderpornos werden gefunden, aus Gerüchten entsteht das Phantombild eines Mannes mit schütteren Haaren. Unterdessen nutzen die höheren Polizeichargen die Suche im Türkenmilieu als Gelegenheit, Heroindealern auf die Spur zu kommen. Und dann wird Ayse gefunden.
Kunst des Mitleids
Mitleid ist ein schwieriges Gefühl, umstellt von Geboten und Verboten. In den USA wird Juristen und Publizisten, die gegen drakonische Strafen argumentieren, vorgeworfen, ihnen fehle das Mitgefühl mit den Opfern. Mitleid ist leichter zu instrumentalisieren als zu empfinden. Auch, weil in unserer Kultur Mitleid als Gefühlsregung der Schwachen verachtet ist. Spinoza sieht es als unvernünftig an, Nietzsche höhnt: „Mitleid ist das angenehmste Gefühl bei solchen, welche wenig stolz sind. Für sie.. ist jeder Leidende etwas Entzückendes.“ Mitleid macht feige und weich – und ist deshalb im rauen Krimigenre selten.
Umso erstaunlicher ist es, dass es Henk Apotheker mit wenigen Worten gelingt, unverfälschtes, spontanes Mitgefühl beim Leser zu wecken. Ayses Leiche wird im Graben beim Park gefunden, verborgen unter einem Gewirr von Wasserpflanzen. Die Feuerwehrleute müssen sie herauszerren und dabei dem zarten Körper noch einmal Gewalt antun. Einer weint: „Sie ist so klein! Ich bin zu grob gewesen.“ Plötzlich sieht man diesen Abgrund vor sich, von dem sonst nur die Rede ist: die Leere, wo Stunden zuvor noch ein Kind war.
Apothekers Schreibkunst, die auch eine Heilkunst ist, hat einen lebenswarmen Kern: es ist das Mitgefühl mit ihren Figuren. Die Geschichte geht anders als erwartet aus, auf berückende Weise gut, ohne Happy end. Ein Kind ist gestorben, ein anderes wird geboren. Das gab es noch nie im Krimi: das Timing wird bestimmt vom Verlauf einer Schwangerschaft.
Henk Apotheker: Ayse ist weg
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Grafit, 2001, 347 Seiten
Unredigiertes Manuskript, erschienen in DIE ZEIT Nr. 49/2001