In Greg Bears „Quantico“ bedrohen Biowaffen und Erlöser die Menschheit
Die schärfsten Antiamerikaner sind die Amerikaner selber. Und das ist gut so. Denn wo bekämen wir sonst die spannenden Politthriller her? Und von woher bekämen wir sonst ein Feindbild, über das wir uns kein bisschen schämen müssen? Hand aufs nordatlantische Herz: Es ist schon eine Freude, wie respektlos amerikanische Thrillerautoren mit ihren höchsten Instanzen umgehen. Sogar im Mainstream. Da werden Präsidenten als Vergewaltiger und Mörder im Boudoir enttarnt (in David Baldacchis Der Präsident), da wird nachgezeichnet, wie sich die CIA die ihr passenden Figuren als Präsidentschaftskandidaten aussucht, aufbaut und fallen lässt (John Grisham: Die Bruderschaft).
Düsteres Jahresausblickspotpourri
Diese Art von Unbekümmertheit, gewürzt mit einem Schuss Paranoia und einem ordentlichen Schluck Science Fiction mischt jetzt Greg Bear in Quantico zu einem düsteren Jahresausblickspotpourri. Sein Thriller, der zeitgleich in den USA erscheint, spielt in naher Zukunft, so etwa im Jahre 2010. Bear brauchte keine großen prophetischen Gaben, um das Bild der Welt, das wir heute kennen, fortzuspinnen. Um Mekka toben bewaffnete Kämpfe. Wahhabitische Rebellen kontrollieren den Zugang zum islamischen Heiligtum, während getarnte US-Geheimverbände und Israelis den traditionell westlichen saudischen Kräften unter die Arme greifen. Von Norden her rücken die Türkei und der wieder erstarkte Irak an. Iranische Militärs zündeln mit taktischen Atomwaffen.
Doch die übelste Katastrophe droht aus den USA. Seit „10/4“, einem 9/11 vergleichbaren Anschlag, diesmal auf die Region Seattle, herrscht Chaos in der US-Administration. Die liberale (das meint: schwache) Präsidentin Larsen gebietet nur noch über einen kleinen Haufen verschworener Agenten. Beherrscht werden die USA von diversen Warlords aus den Spitzen von CIA, FBI, NSA und wie die Spezialpolizeitruppen und Geheimdienste alle heißen. Die Supermacht gerät außer Kontrolle.
Lebensbedrohende Hefe
Weltbedrohende Verschwörungen beginnen klein, darin folgt Greg Bear gängiger Thrillerpraxis. Der „Patriarch“, Chef einer rassistisch-fundamentalistischen Redneck-Großfamilie, sprengt bei einer FBI-Razzia seine Farm in die Luft. Doch in den darunter versteckten unterirdischen Laboren wird nicht das vermutete Anthrax gefunden, sondern ein hefeähnlicher Staub und Feuerwerksraketen. Geliefert hat das Material ein geheimnisumwitterter Mann mit merkwürdigen Augen. Eines ist grün, das andere braun. Was er mit der Hefe beabsichtigt, wird erst nach einer weltumspannenden turbulenten Hetzjagd offenbar. Greg Bear (55), in den USA bekannt als Verfasser von ca. 30 Science-Fiction-Romanen, hat sich in den letzten Jahren auf Wissenschaftsthriller verlegt, die ihm schmeichelhafte Vergleiche mit Michael Crichton eingebracht haben. In Quantico mixt er nun seine wissenschaftlich fundierten Albtraumfantasien über biologische Waffen mit Elementen des Spionage- und Politthrillers. Und siehe da: So richtig schlimm wird es, wenn ein verrückter Teenager mit biotechnologischer Begabung und ein erlösungsbesessener Agent sich zusammentun. Da kann ganz schnell das „Leben vom Angesicht der Erde getilgt werden“. Doch das größte Übel ist das Chaos in der Administration, wo Geheimdienste die Operationen anderer Geheimdiensteinheiten bekämpfen. Auch wenn Bears Figuren recht holzschnitthaft gezeichnet sind und er eine eher hölzerne Prosa schreibt: überraschende Wendungen, üble Intrigen und Chaos steigern sich bis zum rettenden finalen Raketeneinschlag. Ahnungslos, politisch zerrüttet, aber im Besitz einer Superwaffe – so retten die Guten die Welt. Albtraum oder Realismus? Bleiben Sie dran!
Greg Bear: Quantico
aus dem Englischen von Usch Kiausch
Heyne, 2006, 542 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung bei SPIEGEL ONLINE am 1.1.2007