Ulrich Ritzel spielt Forellenquintett in trauriger Kleinstadtkulisse
Um Kriminalromane zu schreiben, braucht man Weltkenntnis. Deshalb geben erstaunlich viele Krimiautoren „Journalist“ als Erstberuf an. Der US-Amerikaner Michael Connelly beispielsweise, dessen Gerichtsthriller Der Mandant gerade von der KrimiWelt-Bestenliste zu einem der besten Krimis im September gewählt wurde, startete als Gerichtsreporter. Gerichtsreporter war auch Friedhelm Werremeier, bevor er seinen leider schon fast vergessenen Kommissar Trimmel ausschickte, um die Skandalchronik der Republik in den siebziger und achtziger Jahren zu schreiben. Skandale sind Ulrich Ritzels Sache eher nicht. Dazu ist der 1940 geborene Schwabe, der beinahe vierzig Jahre lang als Lokalreporter tätig war, zu introvertiert, zu skeptisch, zu wenig auf Sensation aus. 1980 erhielt er den Wächterpreis der deutschen Tagespresse für die Aufdeckung eines lokalen Kartells in Friedrichshafen. Journalistische Recherche hält er auch heute noch, inzwischen ins Romanfach gewechselt, für die effektivere Maßnahme, um öffentlichen Missbrauch anzuprangern.
In seinem sechsten Kriminalroman FORELLENQUINTETT kehrt Ritzel zurück an den Tatort Friedrichshafen, aber mit Literatur. Für den jungen Pianisten, der in Katowice die ihm aufgehalste Plastiktüte mit abgetrenntem Frauenkopf darin in einem Beichtstuhl ablegt, mit einem Päckchen „polnisch Kompott“ die Grenze überquert, in Berlin niedergeschlagen und dann von einem immer noch hoffenden Elternpaar als verlorener Sohn in der Bodensee-Hafenstadt aufgenommen wird, ist das ein weiter Weg. Namen- und erinnerungslos war er in der Psychiatrie gelandet, hatte dort nur einmal sein Schweigen gebrochen und Klavier gespielt. Dieses Wunder des autistischen Pianisten wurde Schlagzeile und entzündete die Sehnsucht der beiden Alten am Bodensee, deren Sohn vor siebzehn Jahren verschwunden war.
Dem musischen Kopf- und Drogentransporteur kommt die unverhofft angetragene Elternliebe auch recht, hat er sich doch für ein quasi buddhistisches Weiterleben entschieden: Schweigen und Hören und Dulden, was kommt. Doch so schnell wird man nicht gänzlich frei von Trieb und Begierde. Und so stößt der Annahme-Sohn in der Kommode des verschollenen Echt-Sohns auf die Kassette mit einer schnulzig-betörenden Einspielung des Schubertschen Forellenquintetts, und damit auf den Hinweis, der eine traurige, schmutzige Kleinstadtgeschichte zu Aufklärung und Abschluss bringen wird.
„Es sind die kleinen Dinge, in denen die große Dummheit sichtbar wird“, legt Ritzel einem empörten Bürger in den Mund. In diesem verwickelten Fall, von dem hier nur der Hauptstrang skizziert ist, bringen die kleinen Dinge neben Hinterlist, Dummheit und Gier noch weitere Grundübel nicht nur der Provinz zutage. Eine Erziehung vor allem, die stur an ewig-festen Werten orientiert ist und nicht an der lebendigen Entwicklung der Kinder, die Heuchelei, Verstellung und letztlich Selbstzerstörung produziert. Da klumpen sich plötzlich im kleinen reichen Friedrichshafen die neuen und die alten Realitätsverschlierer: die Designerdroge „polnisch Kompott“, das Immobiliengeschäft und der Neonazismus, die überbordende Elternliebe und die Sehnsucht, kein Sohn zu sein.
So ist Kriminalliteratur im Glücksfall: viele Schichten und Stränge mischend, welthaltig, aber mit einem kleinen Sprung in der Alltagsschüssel. Und dennoch hell und klar, wie der kalte Mond, der in so einer nassen, romantischen Geschichte nicht fehlen darf. Hier werden Beziehungen enthüllt, Schwindel der komplizierten Sorte: im eigenen Kopf.
Ulrich Ritzel: Forellenquintett
btb, 384 Seiten
Dieser Artikel wurde in der ZEIT Nr. 36 vom 30. August 2007 veröffentlicht und stand im November 2007 auf der KrimiWelt-Bestenliste