DIE KRIMIBESTENLISTE JANUAR: Fünf Neue aus drei Ländern: Nigeria/Großbritannien, USA, Dänemark; drei Debüts
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Jahresanfang! Bevor ich Ihnen die Neuen Titel auf der Liste Januar 2023 mit einem herzlichen Prosit 2023! vorstelle, möchte ich Sie an die KRIMIBESTENLISTE 2022 erinnern. Sie können Sie hier herunterladen.
Anlässlich der Veröffentlichung des DEUTSCHEN KRIMIPREISES 2022 und der KRIMIBESTENLISTE 2022 haben Andrea Gerk, Kolja Mensing und ich auf Deutschlandfunk Kultur über die besten Krimis des Jahres und neue Tendenzen gesprochen, nachzuhören hier.
An erster Stelle der fünf neuen Titel im Januar 2023 steht das bemerkenswerte FERN VOM LICHT DES HIMMELS von Tade Thompson. Thompson wurde 1969 als Sohn von Yoruba-Eltern in London geboren, hat Anthropologie und Medizin studiert und praktiziert als Psychiater in Südengland. Als er sieben war, sind seine Eltern mit ihm nach Nigeria gegangen, er spricht neben Englisch Igbo, Pidgin und Yoruba. Auf Deutsch sind bisher sein Krimidebüt WILD CARD sowie die beiden ersten beiden Bände der Science-Fiction-Trilogie WORMWOOD erschienen. In FERN VOM LICHT DES HIMMELS mischt er im Geiste des Afrofuturismus traditionell Westliches mit afrikanischen Mythen, Science Fiction mit Krimi, natürliche mit künstlicher Intelligenz, menschliche mit nicht menschlichen Wesen – der Weltraum enthält mehr Möglichkeit zur Freiheit als einer in einem Buch ausfabulieren kann.
Traditionell westlich ist die Inspirationsquelle: DIE MORDE IN DER RUE MORGUE, 1841 von Edgar Allan Poe als erstes Locked-Room-Mystery und erste Kriminalgeschichte überhaupt erzählt. SF ist allein schon der Ort: das Raumschiff Ragtime, zehn Reisejahre und etliche Raumsprünge von der Erde entfernt. Als die pro forma Pilotin Shell Campion (das Schiff wird von einer KI gesteuert) aus dem Tiefschlaf erwacht, sind 31 von 1000 Passagieren ermordet, die KI reagiert nicht mehr auf Shells Anweisungen, und sie ist als einziger Mensch an Bord.
Viele Erfindungen sind nur angedeutet, alle Geschichten, Rätsel, Lösungen zu referieren, würde den Raum dieses Blogs sprengen. Genau das will Thompson: Gedankenräume schaffen, festgefahrene Vorstellungen sprengen, mit den überlieferten Erzählmustern von SF und Krimi spielen. Und das in einem pointierten, lakonischen, selbstironischen Stil. Lesen Sie selbst!
Von der anderen Seite des Atlantiks kommt ein ähnlich phantasievoller, aufrührerischer Krimi: DIE TAUSEND VERBRECHEN DES MING TSU von dem 1996 in Peking geborenen, in den USA aufgewachsenen Tom Lin. Er kombiniert in seinem Debütroman traditionelle Westernmotive (der einsame Rächer, der Fremde, westwärts) mit historischen (sklavenähnlich ausgebeutete Chinesen beim Eisenbahnbau) mit phantastischen Elementen (ein die Zukunft kennender Prophet, eine Frau, die im Feuer nicht verbrennt, ein Maori, der jede Gestalt annehmen kann) zu einem eigenen magischen Kosmos. Katrin Doerksen erkennt in ihrer Rezension das Verbindende von magischem Realismus und Western: „Beide handeln die Grenzen aus zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Dies- und Jenseits, auf denen ihr Held balanciert.“
Die Grenzen von Zivilisation und Wildnis, die äußeren, vor allem die inneren, sind Thema von WILD, ebenfalls ein Debüt, verfasst von der in Alaska in sozialen Projekten arbeitenden Autorin Jamey Bradbury, Jahrgang 1979. Die 17jährige Tracy lernt darin, mit der Wildnis in ihr selbst in Übereinstimmung zu kommen. Sie trinkt das Blut der von ihr verletzten Tiere (und Menschen) und nimmt so deren Erfahrungen in sich auf. Thomas Wörtche: „Bradbury [braucht] auch kein im zeitlichen Kontext festgeschriebenes Alaska, sondern nur eine mysteriöse, übermächtige Natur, mit der am Ende die Protagonistin gleichsam verschmilzt. Darin kann man gerne ein utopisches Moment sehen – wenn denn die Menschen bereit wären, die künstlichen, menschengemachten Grenzen aufzuheben.“
Von ganz anderer Wildheit, entfesselter menschlicher Machtgier, handelt Iben Albinus‘ Politthriller und erster Roman DAMASKUS. Darin wird eine Kooperation zwischen einem „nordischen“ Telekommunikationskonzern und dem Terrorregime der Assads in Syrien im Jahr des arabischen Frühlings 2011 erfunden. Inmitten: Heillos und ziemlich naiv verwickelt die Menschenrechtsaktivistin Sigrid Melin, die für die Funknetzbetreiber ein Modell sozialer Nachhaltigkeit entwickeln soll. Dass sie sich damit unter dem Deckmantel freier Kommunikation zur de-facto-Komplizin des Terrors macht, begreift sie erst, als sie im Knast sitzt, aber auch hier privilegiert gegenüber ihren syrischen Mitgefangenen.
Sally McGrane ist US-amerikanische Journalistin mit Sitz in Berlin. Ihr Thema Osteuropa. Dort, in Moskau, hat sie 2016 erstmals ihren abgehalfterten CIA-Agenten Max Rushmore (man denke an die bröckelnden Präsidentenköpfe) ins Dunkelfeld von Schamanismus, Atommüllentsorgung und Diamantenklau geschickt. MOSKAU UM MITTERNACHT war dieser Start, der englische Titel MOSCOW AT MIDNIGHT verwies auf eine Serie. Leider hat McGranes neuer deutscher Verlag Voland&Quist dem Nachfolgeband einen deutschen Titel verpasst, der nur schwach auf den Vorgänger verweist: DIE HAND VON ODESSA. Auf englisch soll es wieder ODESA AT DOWN heißen. Wie dem auch sei, ausgelöst wird die Recherche des immer noch abgehalfterten, aber in der Krise das Comeback witternden EX-CIA-Manns Rushmore durch das Auftauchen der durch ein Muttermal charakteristischen Hand des neuen Gouverneurs von Odessa in einer Sonnnenblumenöllieferung in den USA. Erstaunlich, dass der Mann, ein Reformer, im TV immer noch mit zwei funktionierenden Händen gestikuliert. Rätselhaft, also Spionage? Was Rushmore im Odessa nach der Besetzung der Krimi durch die Russen erlebt, geht auf keine Kuhhaut, weshalb die Geschichte in Hoffmann‘scher Manier von einem Kater erzählt wird. Nach allerhand Turbulenzen, die so nur in der Stadt am Schwarzen Meer denkbar sind, überwindet der Kater namens Mister Smiley seine panische Angst vor Wasser und rettet die Frau, die er über alles liebt, vor dem Ertrinken. Aber dazwischen liegt eine tolle Geschichte, bebend vor Lebenslust und zitternd vor Angst.
Die Krimibestenliste Januar ist seit Freitag, dem 6. Januar, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden. Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur über FERN VOM LICHT DES HIMMELS als höchsten Neueinstieg der Januarliste gesprochen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und sehr oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Sei es Sparwut, sei es was auch immer: Leider hat der Zürcher Tages-Anzeiger mit seinen unendlich vielen Kantonalausgeban den wöchentlichen Blog unseres Schweizer Jurymitglieds Hanspeter Eggenberger gecancelt und damit der deutschsprachigen Krimikritik schweren Schaden zugefügt. Zum Glück führt Hanspeter seine verdienstvolle Arbeit weiter auf seinem neuen Blog krimikritik.com. Krimifreunde, bitte abonnieren Sie seinen wöchentlichen Newsletter!
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Wintertage!
Ihr Tobias Gohlis