Ulrich Ritzel in seinem Arbeitshaus im Schwarzwald – ein Besuch 2007
In einer Personenbeschreibung, die der Stern in Umlauf gebracht hat, heißt es: „Ulrich Ritzel ist bestimmt kein glücklicher Mensch. Das lässt sich von seinen Lippen ablesen. Dieser bittere Zug findet sich häufig bei Menschen, die zu viel gelitten haben. Oder bei solchen, die regelmäßig mit der Justiz zu tun haben.“ Der Mann, der mich an der Endstation der Regionalbahn von Freiburg nach Seebrugg am Schluchsee empfängt, lächelt freundlich. Kein bittererer Zug um die Lippen. Mit Cordhose, Wanderschuhen und Tweedjackett könnte der hagere Herr mit dem schmalen Gesicht als britischer Landlord durchgehen. „Geht’s Ihnen gut?“, erkundige ich mich. „Bis auf eine verspannte Schulter ist alles OK.“ „Zu viel geschrieben?“ „Nein, die Hunde.“
Zu dem 200-Seelendorf Schönenbach, in dem Ritzel seit Sommer 2006 wohnt, steigt die Straße durch Fichtenwald an. Nebel hängt zwischen den Bäumen. Sein kleines Arbeits- und Ferienhaus liegt am Dorfrand, der Blick schweift über abfallende Wiesenhänge. Bei klarem Wetter sieht man im Süden die Gipfel des Berner Oberlands. Als Ulrich Ritzel die Heckklappe seines Wagens öffnet, kommen zwei pechschwarze Ungetüme herausgestürmt, ein einziges Sabbern, Bellen, Schnappen und Springen. Ich verstehe, woher Ritzels Schulterbeschwerden kommen. Zwei Labradors zerren an ihren Leinen und lassen sich kaum bändigen. Zora und Balou sind Teenies, gerade mal ein Jahr alt. „Jeder, der was von Hunden versteht, rät davon ab, gleich zwei aufzuziehen. Aber gucken Sie doch nur, wie die miteinander umgehen, die kann ich nicht trennen.“ Sie werden uns einen Tag lang begleiten, beim Spazierengehen, beim Reden.
Kindheitstraum
Ritzel hat sich einen Kindheitstraum erfüllt, als er sein kleines Haus erwarb. „Schönenbach ähnelt Steingebronn auf der Alb, wo ich mit meiner Mutter aufwuchs.“ Nur karger war es dort und ärmer, daran erinnern bedrängende Passagen in seinen bisher fünf Romanen. Ulrich Ritzel wurde 1940 in Pforzheim geboren, und eines der ersten Bilder, an das er sich erinnern kann, ist ein Kriegsbild. Ein Opel, „halb verdeckt von herabhängenden Zweigen einer Linde“, in dessen Karosserie das Maschinengewehr eines Tieffliegers eine Reihe von Löchern gestanzt hatte. Ritzel hatte ihn als viereinhalbjähriger Bub am Waldrand entdeckt. Als Erwachsener versuchte der Journalist vergeblich, herauszubekommen, was den Autobesitzer, einen Holländer, dorthin verschlagen hatte. War er Kollaborateur gewesen? Wer hätte sonst bei Kriegsende über einen Opel verfügen können? Ritzel hat sich einen Kindheitstraum erfüllt, als er sein kleines Haus erwarb. „Schönenbach ähnelt Steingebronn auf der Alb, wo ich mit meiner Mutter aufwuchs.“ Nur karger war es dort und ärmer, daran erinnern bedrängende Passagen in seinen bisher fünf Romanen. Ulrich Ritzel wurde 1940 in Pforzheim geboren, und eines der ersten Bilder, an das er sich erinnern kann, ist ein Kriegsbild. Ein Opel, „halb verdeckt von herabhängenden Zweigen einer Linde“, in dessen Karosserie das Maschinengewehr eines Tieffliegers eine Reihe von Löchern gestanzt hatte. Ritzel hatte ihn als viereinhalbjähriger Bub am Waldrand entdeckt. Als Erwachsener versuchte der Journalist vergeblich, herauszubekommen, was den Autobesitzer, einen Holländer, dorthin verschlagen hatte. War er Kollaborateur gewesen? Wer hätte sonst bei Kriegsende über einen Opel verfügen können?
Aus der Rumpelkammer
1998 wird dieses Bild zum Ausgangspunkt von Ritzels erstem Kriminalroman Der Schatten des Schwans. Das ungelöste Rätsel des zerschossenen Autos war die eine von „zwei unaufgeräumten Geschichten aus der Rumpelkammer meines Gedächtnisses“. Die andere war der Fall eines Mannes, der unter dem Einfluss eines Psychopharmakons seine Frau und ein Kind umgebracht hatte. In dem Prozess, den Ritzel als Gerichtsreporter beobachtete, wurde die Medikamentenabhängigkeit des Täters kaum thematisiert. Als Ritzel dann noch entdeckte, dass Phenotiazin, ein Grundstoff für die Herstellung bestimmter Psychopharmaka, erstmals 1946 in der wissenschaftlichen Diskussion vorgestellt wurde, hatte er das „missing link“ für seinen ersten Plot. Sein literaturliebender Kommissar Berndorf wird gleich mehrfach herausgefordert: Ein verurteilter Mörder ist aus dem Knast geflohen und reizt den staatlichen Fahndungsapparat zu Gewaltleistungen. Zugleich wird ein Arbeitsloser aus Görlitz tot in seinem Wagen aufgefunden. Beider Geschichte ist mit den mörderischen medizinischen Menschenversuchen verknüpft, die Naziärzte in der Landespflegeanstalt „Christophsbronn“ durchgeführt haben — nicht weit von dort, wo Ritzel aufwuchs.
Liste der Neins
Bereits dieser erste Roman enthält alle Elemente, die Ritzels Leser begeistern. Mit Lakonie und untrüglichem Blick fürs Groteske geschilderte Szenen aus dem Alltag deutscher Verwaltung, Bürokratiesatire vom Feinsten, komplexe, in filmischer Mehrperspektivität und Schnitttechnik durchgeführte Handlungsstränge, detailgesättigte Darstellung technischer, historischer und sozialer Zusammenhänge, plausible Auflösung ohne Happy End, eleganter, plastischer, witziger Stil. Auf Ziele und Absichten lässt sich der Schriftsteller Ritzel ungern festlegen. Die Liste seiner NEINs ist länger als die seiner JAs: Er schreibt keine Schlüsselromane. Er versteht sich nicht als Aufklärer. Er will nichts aufzeigen. Er will kein Bewusstsein für Ungerechtigkeit wecken. Obwohl er für seine Kriminalromane großes Lob und Auszeichnungen (Deutscher Krimipreis 2001, Burgdorfer Krimipreis 2004) erhalten hat und sie auch gut verkauft werden, sagt Ritzel häufig, er „versuche“ etwas. „Ich will eine Geschichte erzählen, und den Reim müssen sich die Leute selber machen. Ich versuche, etwas über die Zeit und die Gesellschaft zu erzählen, wie ich sie sehe.“ Aber warum dann die Form des Kriminalromans? „Schreiben ist doch immer der Versuch, etwas zu benennen, etwas aufzudecken, etwas zu verstehen. Deshalb gibt es für mich überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Kriminalroman oder einer anderen Art von Literatur. Das mag größenwahnsinnig klingen. Aber ich finde das so. Ich schreibe, um etwas auf die Reihe zu bringen.“ Das sagt er entschieden, wie zur Abwehr weiterer Fragen. Und fährt dann doch fort: „Insofern habe ich einen optimistischen Grundzug, als ich mir ausmale, etwas lasse sich aufräumen, in irgendeiner Weise.“
Lokalredakteur, klarer Blick
Dabei gärt es in ihm, Zorn und Empörung sind die Triebkräfte seines Schreibens. Von der Mutter hat er soziales Denken gelernt. Er gehört nicht zu denen, die wie die 68er gegen das Schweigen ihrer Väter ankämpfen mussten. Er wusste früh von den Verbrechen des Nationalsozialismus. 1958 war er der einzige in seiner Gymnasialklasse, der gegen den „Atomtod“ demonstrierte. Er studierte zunächst Jura — ein autobiografisches „Selbstporträt des Autors als junger Affe“ enthält sein letzter Roman „Uferwald“. Das ungeliebte Studium brach er empört ab, als ihm der Professor in Rechtsgeschichte weismachen wollte, der Nationalsozialismus habe die Kontinuität der deutschen Justiz nicht unterbrochen. Die Studentenbewegung erlebte Ritzel, gerade Ehemann und Vater geworden, als Lokalredakteur in der bayrischen Provinz als „Strohfeuer in den großen Städten.“ Auch heute ist er davon überzeugt, dass die Wirklichkeit der Politik sich auf dem Lande vollzieht, in der Provinz, nicht in Berlin. Deshalb kommt ihm Ulm als Schauplatz seiner Krimis mit den Kommissaren Berndorf, Tamar Wegenast und Markus Kuttler gerade recht, zumal er sich dort gut auskennt. „Stuttgart wäre mir zur Abrechung geraten, Tübingen ist zu skurril.“ Zeit seines journalistischen Berufslebens war Ritzel an Provinzzeitungen tätig, meist als Lokalredakteur und Gerichtsreporter, zuletzt als Chefreporter der Ulmer Südwestpresse, insgesamt 35 Jahre.
Die Provinz regiert
Regionale Politik und Verwaltung kennt er aus dem Effeff, auch ihre Verstrickungen. Ulm ist — von der Unterschicht bis zum Bundesverdienstkreuzträger — Klassengesellschaft im überschaubaren Format. Das Handeln der meisten Würdenträger ist von sehr alltäglichen Motiven bestimmt: Gier nach Macht, Geld, Ansehen und Posten. 1980 wurde Ritzel mit dem „Wächterpreis der Tagespresse“ ausgezeichnet. Er hatte akribisch die Machinationen nachgezeichnet, mit denen sich die Friedrichshafener kommunale Obrigkeit einer Bürgerinitiative zu erwehren suchte. Seine Romane speisen sich bis in Details aus einer reichen Lebens- und Reportererfahrung. So entstammt sogar eine so bizarre Figur wie der Pfarrer und Stasi-Agent Hartlaub in „Der Hund des Propheten“ keineswegs dichterischer Phantasie, sondern genau registrierter Alltagsbeobachtung. Dieser Alltagskenntnis verdankt Ritzels Schreiben auch die leise Komik.
Der Mann, der sich davonschleicht
Sein skeptischer Blick in die Welt lässt Klischees nicht zu, und seine Figuren, auch die Bösewichter, sind niemals schwarz-weiß gezeichnet. Ritzel entlarvt nur nebenbei. Ihn interessieren „Momente der Wahrheit“, Entscheidungssituationen, in denen der eine so und der andere so handelt. Deshalb gräbt er auch in seiner eigenen Vergangenheit nach „unaufgeräumten Geschichten“: Als Fünfzehnjähriger hat Ritzel einem Mädchen nicht geholfen, weil er einer Schlägerei ausweichen wollte. Als Motiv vom Mann, der sich davonschleicht, kehrt es mehrfach in seinem Werk wieder. Einer, der nicht ausweicht, ist sein Held Berndorf, der unbeirrt forscht, gräbt und aufdeckt, egal, wem es passt oder nicht passt. Ritzel geständig: „Wer möchte das nicht auch mal sein, ein Held? Natürlich verlasse ich mit solchen Figuren und vielen anderen Elementen den Anspruch eines realistischen Romans, und ein Krimi soll, auch nach meinem Anspruch, einen realistischen Ansatz haben. Da hat der Krimi auch etwas Utopisches. Ich erfülle mir Tagträume eines kleinen Jungen, dessen Held schon mal über die Scheißrealität triumphieren kann, wie es der Journalist Ritzel nicht tun konnte. Seien wir doch mal ehrlich.“ Sagt’s, und guckt ganz zufrieden.
Das Porträt entstand 2007 im Auftrag des btb-Verlags, in dem Ulrich Ritzels Romane erscheinen.
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