David Peace eröffnet mit 1974 rasant sein Red-Riding-Quartet
Als der „Yorkshire Ripper“ sich im März 1979 in einem dritten Brief an die bis dato erfolglos operierenden Polizeikräfte wandte, bedauerte er: „Sorry, dass ich nicht geschrieben habe, ein Jahr nicht, um exakt zu sein, aber ich war eine Weile nicht im Norden.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte er seit 1975 elf Prostituierte ermordet.
Auch Edward Dunford war eine Weile fort im Süden Englands, bevor er jetzt, als frisch bestallter „Gerichtsreporter der Yorkshire Evening Post für den Norden“, mit Glanz und Glamour in seine Heimat Leeds zurückgekehrt ist. Sein Vater ist soeben gestorben. Doch das einzige, was den Hoffnungsträger des Boulevards an den Gesprächen der Trauergemeinde interessiert, sind Hintergrundinformationen über tote kleine Mädchen. Die zehnjährige Clare Kemplay ist auf dem Schulweg verschwunden, sie wird bereits per Aufruf an die Bevölkerung gesucht. Als Eddie Dunford hört, dass in den letzten Jahren noch zwei andere Schulkinder im gleichen Alter verschollen sind, glaubt er, die Sensationsstory am Haken zu haben, die seinen Namen berühmt machen wird. Es dauert nicht einmal einen Tag, bis sich Eddies schöne Hoffnungen in einen Albtraum verwandeln. Clare wird in einer Baugrube aufgeschlitzt gefunden, an ihren Rücken sind die abgehackten Flügel eines Schwans genäht.
Die Geschichte Eddie Dunfords, von ihm selbst erzählt, ist der Auftakt zu David Peaces „Red Riding Quartet“. Während hierzulande soeben der erste Band mit dem lakonischen Titel 1974 erschienen ist, liegt die Tetralogie auf Englisch und Französisch bereits abgeschlossen vor. In 1974, 1977, 1980 und 1983 erzählt Peace vom Yorkshire seiner Jugend, und die war von einem Thema beherrscht, dem „Yorkshire Ripper“.
1975, als der Prostituiertenmörder mit seiner Serie in der unmittelbaren Nachbarschaft begann, war David Peace acht Jahre alt. So besessen war der Junge von der durch die Massenmedien zu dämonischer Größe aufgeblähten Gestalt des Killers, dass er eine Zeit lang sogar seinen eigenen Vater verdächtigte, der Ripper zu sein. Als er schließlich herausfand, dass der Vater für den letzten Mord ein Alibi hatte, lebte Peace bis 1981, als der Mörder gefasst wurde, unter der wahnhaften Angst, seine Mutter werde das nächste Opfer sein.
Obsessionen dieser Art treiben die einen dazu, Verbrecher zu werden, andere beginnen zu schreiben. Von James Ellroy ist bekannt, dass er, ähnlich traumatisiert und besessen vom unaufgeklärten Tod seiner Mutter, alkohol- und drogenabhängig nur haarscharf an einer Gangsterlaufbahn vorbeirutschte. Auch Peace berichtet, er habe Jahre lang gesoffen, bis es ihm gelang, im zweiten oder dritten Anlauf 1974 zu Papier zu bringen. Nicht nur biographisch, deutlicher noch stilistisch und in der schriftstellerischen Moral gibt sich Peace als Adept Ellroys zu erkennen. Wie der düstere Meister aus LA peitscht er den Leser mit abgehackten, wie mit Stacheldraht bewehrten Sätzen, erzwingt detail- und sprachbesessen höchste Aufmerksamkeit. Realitätsfetzen, Songtitel, Schlagzeilen, Indizien fliegen auf den Ich-Erzähler Eddie Dunford wie Eisenspäne auf einen Magneten. Nur allzu bald verwandelt sich der von Kollegen gedemütigte, von seinem Chefredakteur, lokalen Baugangstern und einer korrupten Polizei manipulierte Jungjournalist in ein geschlagenes, verletztes und selbst verletzendes Häufchen Elend, das in einer Welt aus Ekel-Porn nur noch ein Ziel kennt: unter all den korrupten Bauunternehmern, in die eigene Tasche wirtschaftenden Bullen und anderen Verbrechern diejenigen ausfindig zu machen, die die Kinder umgebracht haben. Er findet diese armseligen Wichte schließlich am 24. Dezember in einer aufgegeben Kohlenmine, in der „Höhle des Weihnachtsmanns“, umgeben von den blutigen Fetischen ihrer Mordphantasien.
1974 ist ein Buch, das man zwischendurch zerreißen und die Toilette hinunterspülen möchte, so ekelerregend ist die Selbsterniedrigung beschrieben, die sich Eddie antut, so abstoßend ist diese Welt der ausschließlich auf eigene Befriedigung bedachten brutalen Bauunternehmer und enthemmten Spießer charakterisiert. Peace selbst hat die Tetralogie als eine Art Exorzismus betrieben. Aus dieser letztlich religiös motivierten Intention – Eddie verwandelt sich in einen mörderischen Erlöser – resultiert aber auch die ungestüme Wucht dieses Buches, das man dann doch nicht aus der Hand legen mag. Peace erinnert sich, dass die Schussgeschwindigkeit des Fußballstars Peter Lorimer seinerzeit mit 145 km/h gemessen wurde, seinem Alter Ego Eddie schlägt mit gleicher rasender Geschwindigkeit das Herz.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 19 vom 4.5.2005 unter dem Titel „Die Verwandlung in einen mörderischen Erlöser“. 1977 stand von Mai bis August auf der KrimiWelt-Bestenliste.
David Peace: 1974
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind, 2005, 383 Seiten
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