Reginald Hill verneigt sich in DIE RÄTSELHAFTEN WORTE vor den Rätselkrimis dieser Welt
Was gibt es harmloseres als einen Kurzgeschichtenwettbewerb? Schlechte Prosa säckeweise, dazu noch handgeschrieben – die Vorjuroren des Story-Preisausschreibens der Mid-Yorkshire Gazette ächzen unter einem Dauerfeuer hochambitionierter Einsendungen. Kaum zu glauben, was die biederen Leute von Yorkshire alles schreiben: täglich landet ein Postsack mit ihren Ergüssen in der Stadtbibliothek, belangloses Zeug, das die geplagten Bibliothekare von Tag zu Tag entschlossener im Papierkorb versenken. So wäre dem Juroren-Furor auch beinahe ein Beitrag mit der schlichten Überschrift „Erster Dialog“ zum Opfer gefallen, dessen wirrem Text ein rätselhaftes Initial vorangestellt ist.
Zwischen Rätselzeichnung und Dialog stolpert man halb verwundert, halb verwirrt herum und begreift so wenig, was das soll, wie die beiden Juroren. Eingebettet in allerlei Zwiesprache zwischen namenlosen Vertrauten wird von einem Unfall erzählt: Ein Auto blieb liegen, ein Mitarbeiter der Automobile-Association hielt hilfsbereit, stolperte, schlug sich den Kopf an, und starb. Biederer, häkelhafter könnte ein Krimi kaum beginnen, es gibt ja nicht einmal einen Fall: der AA-Mann wäre ohne den „Ersten Dialog“ als Unfallopfer beerdigt worden. Und doch: DIE RÄTSELHAFTEN WORTE von Reginald Hill, die mit dieser Verneigung vor allen Bibliotheks- und Rätselkrimis der Welt beginnen, scheinen mir einer der besten Krimis zu sein, die 2002 auf Deutsch erschienen sind.
Hill muss immer noch entdeckt werden
Erstaunlicherweise ist Hill in Deutschland nur Eingeweihten bekannt. Der 1936 geborene Engländer hat seit 1970 rund vierzig Kriminalromane geschrieben, von denen immerhin zehn während der achtziger Jahre ins Deutsche übersetzt wurden. Seit zwei Jahren betreut ihn der Hamburger Europa-Verlag, wo bislang Das Dorf der verschwundenen Kinder (2000) und Das Haus an der Klippe (2001) erschienen sind, ohne jedoch recht bemerkt zu werden. Das mag mit Hills Schreibweise zu tun haben, die vertrackt, anspielungsreich, umwegverliebt und – in diesem Fall – von renaissancehafter Lust am Wortspiel durchdrungen ist.
Macht oder Ohnmacht des Wortes
Macht und Ohnmacht des Wortes sind seit altersher klassische Verbrechensschlüssel, man denke nur an Ödipus oder Ecos Name der Rose. In diesem Fall könnte die Vorliebe einiger Schlaumeier für das Spiel Paronomania, eine Art Super-Scrabble in mehreren Sprachen, ein Hinweis auf den wahren Verbrecher sein.
Hill beginnt wie Gott. Schon bald entziffern die Detektive und ihre aus der Universität herbeigerufenen Sekundanten aus den Fachbereichen Psychologie/ Linguistik im hermetischen Initial und dem Subtext des Dialogs Anspielungen auf den Satz „Im Anfang war das Wort.“ Doch bevor sie noch richtig begriffen haben, dass es um den Anfang einer Mordserie geht, liegen drei weitere Menschen in ihrem Blut – und jeder Tötungsakt ist detailliert in einem weiteren „Dialog“ beschrieben.
Die Detektive Peter Pascoe, Sergeant Wield und Constable Bowler (genannt „Hat“) haben es mit einem semiotisch versierten Serienkiller zu tun, der nach und nach die gesamte Provinz-Intelligenz umzubringen droht. Die liebevoll-grobe Ironie, mit der Hill die verfeindeten Kulturträger seines fiktiven Mid-Yorkshire-Städtchens charakterisiert, vermag ihm unter den zeitgenössischen Krimiautoren kaum einer nachzumachen. Bei aller Scharfsinnigkeit der Konstruktion – vier-, fünf Mal muss je nach Indizienlage das Rätselinitial plausibel neu gedeutet werden – schreibt Hill zum Brüllen komisch, besonders dann, wenn der fette Schotte Andy Dalziel (sprich: „Dee-ell“), Superintendent der Kriminalistentruppe, sich als rüder Proll gibt, um seine messerscharfe Intuition zu tarnen. Heinrich Heine, dem einer der Verdächtigen die allergültigste Übertragung ins Englische verpassen will, nennt er konsequent „Heinz – oder meinetwegen Ketchup“, von Literatur-Gedöns hält Autodidakt Dalziel gar nichts.
Der volle Hill-Genuss
Wer Zeit hat und sich den vollen Hillgenuss gönnen möchte, sollte die Lektüre mit dem Dorf der verschwundenen Kinder beginnen. Der erzählten Zeit nach liegen die drei Romane nur wenige Monate auseinander, und es ist pures Schmökervergnügen, den exzentrischen Ermittlern auf ihren Streifzügen durch Mid-Yorkshire zu folgen. Unter den dreien sind DIE RÄTSELHAFTEN WORTE das Meisterwerk. Hill erneuert darin die totgesagte Tradition des Rätselkrimis höchst scharfsinnig (mit einer literarisch wie rätseltechnisch verblüffenden Auflösung), verwoben mit Elementen des Serienkiller-, und des Polizeiromans. Hill ist derzeit die Höhe!
Reginald Hill: Die rätselhaften Worte
Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher u. Thomas Wollermann
Europa Verlag, 574 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 40/ 26.9.2002
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