Ein Krimi wie von Mozart?
Im Bücherschrank meiner Eltern gab es einen dieser auf Reeducation-Papier gedruckten und pappgebundenen schmalen Nachkriegsbände mit dem Titel „Plaudereien an englischen Kaminen“. Ich glaube nicht, dass ich es je gelesen habe, aber in Erinnerung sind mir die Zeichnungen geblieben: Salonszenen mit biedermeierlich oder viktorianisch gekleideten Damen und Herren. Erstere mit Teetassen, letztere Pfeife schmauchend. Bilder, die sich deutlich von den Trümmergrundstücken und schlecht beleuchteten Neubauten unterschieden, zwischen denen ich aufwuchs.
An diese unverfänglichen, in der Kinderzeit aufgeschnappten Idyllen, neben denen ich auch Charles Lambs genauer gelesene Nacherzählungen von Shakespeare-Stücken fand, erinnert mich Ian McEwans Nussschale, das ein alter Studienkamerad in einer Rezension kürzlich als „veritablen Krimi“ identifizierte.
McEwans Erzählung von Mordkomplott, Mord und Eifersucht stammt aus der Molekularküche. Sie hat in etwa so viel mit Shakespeares Hamlet zu tun wie Jeffery Deavers querschnittsgelähmtes Superhirn Lincoln Rhyme mit Conan Doyles Sherlock Holmes. Radikale Reduktion in beiden Fällen: Sherlock ist auf die reine Hirntätigkeit eines fast völlig Bewegungslosen geschrumpft, der zaudernde und räsonierende Hamlet ist in die räumliche Enge eines Uterus gesperrt.
Plapperndes Es
Held und schwadronierendes Ich („zaudernder Narr, der ich bin“) in dieser Nussschale ist ein Fötus im letzten „Trimester“ der Schwangerschaft. Aufs reine Wachsen und Zunehmen beschränkt, Passivtrinker der durch Mutter Trudys Placenta dekantierten Weine und eifriger Mithörer von Bildungsfunk und Papa Johns Gedichten, ist der Knabe – unerwünscht, ein namenloses Es – zu einer plappernden Enzyklopädie gereift, der die europäische Flüchtlingskrise ebenso zu kommentieren versteht wie die Immobilienpreise in St. John‘s Wood.
Existenziell bedrohlich wird seine Lage, als er – gezwungenermaßen teilnehmender – Belauscher der um ihn gesponnenen Intrige wird: Onkel Claude schläft mit Mutter Trudy, und beide planen, den dichtenden armen Ehemann bzw. Bruder zu vergiften, um das großelterliche Haus in guter Lage zu verscherbeln und den Nachwuchs zur Adoption freizugeben.
Rache !
Der Witz dieses mit Witz nicht geizenden Buches liegt darin, dass der Ich-Erzähler – im Plapperrausch des scheinbar Wortmächtigen – sich seiner prekären Lage nur am Rande bewusst wird. Zwar füchtet er, bei Chips und Serien-TV in einer Adoptiv-Familie zu verfetten, statt in Oxford seinen Geist zu vervollkommnen. Aber bis zur letzten Aktion handelt er – wie Hamlet – ehrenhaft, jedoch beschränkt, aus Rache für den ermordeten Vater.
Diese amüsant die Begrenztheit des Lokals („wie eine zu enge Mütze“) wortreich sprengende Fötologie eifert dem erklärten Ziel nach: „Alle Kunst will wie die Kunst Mozarts sein.“ Doch die war nicht so harmlos wie McEwans Kamin-Plauderei über die unendliche Freiheit der Ungeborenen.
Großartig das Shakespeare-Zitat (aus Hamlet, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel), das als Motto dient:
„O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn meine bösen Träume nicht wären.“
Ian McEwan: Nussschale
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes, 288 S., 22 Euro
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