James Sallis fragt, ob wir uns selbst kennen können
Nicht nur Krimis, sondern alle Bücher sollte man vom Ende her denken, dieses, den geschätzt zwanzigsten Roman von James Sallis, Jahrgang 1944, besonders. Es beginnt, wie es endet, als Notizbuch einer Person, die sich ihrer nicht sicher ist. Mit sieben begann sie zu räsonieren: „Ich heiße Pretty, aber ich bin nicht hübsch.“
Am Ende von Selbstvergewisserung und Selbstverungewisserung, nach etlichen Toten und ihrer Entlassung aus dem Polizeidienst notiert Sarah Jane, alias Pretty, in einen anderen Spiralblock: „Wir sind alle aufmerksame Zeugen unseres eigenen Lebens, nicht wahr? Wir schauen zu, wie es passiert.“
Augenzeugen sind alles andere als zuverlässig, auch diese Augenzeugin ihres Lebens und ihrer Taten nicht. Sarah Janes Exerzitien der Selbstbefragung sind von ihr geschrieben – komponiert und arrangiert hat sie James Sallis, ausgewiesener Spezialist für Bewegung und Ungefähres. Driver hieß sein Buch, das ihn, verfilmt mit Ryan Gosling, berühmt machte: Leben als Roadmovie voller vorbeiziehender unverständlicher Botschaften.
Ob Fluchtfahrer oder Köchin, Soldatin und Polizistin: Sallis variiert diese Grundsicht seines Denkens und Schreibens immer wieder aufs Neue.
Diesmal, in Sarah Jane, auf die Frage zugespitzt, ob wir – Sarah also – imstande sind, wahrzunehmen, zu erinnern und zu begreifen, was wir getan haben, woran wir schuldig geworden sind, und ob es uns gelingt, den Konsequenzen daraus zu entgehen. Ein Fluchtroman mithin, Flucht vor der Wirklichkeit, vor der Einsicht in die Wirklichkeit, vor dem Ich – wobei Sallis’ Kunst diese Begrifflichkeiten auflöst in etwas Schimmerndes, Opakes: Was sind Einsicht, Wirklichkeit, Ich?
Sarah Jane ist ein Text von schlierenhafter Präzision: Um auch nur die Annahmen über das Gegebene – kriminologisch: die Indizien – zu verifizieren, verlangt Sallis höchste Aufmerksamkeit. Man muss zurückblättern, vorblättern, Tatbestandsmerkmale vergleichen, um Tatbestände auszumachen oder zu verwerfen, Täter zu identifizieren.
„Es gibt keine Theorie von irgendetwas“ hat Sarah im College gelernt. „Immer das Spezielle betrachten.“ So könnte man Sallis’ Text mit den etwas zu oft belehrend eingeworfenen paradoxen Sentenzen selbst beschreiben und den leicht verschrobenen Metakrimi beiseitelegen – gäbe es in diesem Buch nicht etliche schillernde Einsprengsel amerikanischer Südstaatenwelt und von Gewalt generell, die wir auch von anderswo kennen, aber auch da nicht völlig begreifen.
Dieser Text wurde zuerst in der ZEIT am 1.9.21 veröffentlicht.
James Sallis: Sarah Jane
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
Liebeskind 2021, 218 Seiten
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