Thomas Knüwers fulminantes Debüt DAS HAUS IN DEM GUDELIA STIRBT
In Unterlingen herrscht Chaos. Der kleine Murbach ist zum reißenden Strom angeschwollen, die unteren Stockwerke der meisten Häuser sind bereits überflutet, fast alle Bewohner sind aus dem Dorf geflohen. Nur eine sehr alte Frau harrt im ersten Stock ihres Hauses aus. Hilflos, schwach, verzweifelt – würde man denken. Doch nichts da. Gudelia, so heißt die Einundachtzigjährige, erweist sich als erstaunlich stark. Kühl begutachtet sie die vorbeirauschenden braunen Wassermassen, staunt, wie schnell der Topf mit brennendem Zeitungspapier in der Dunkelheit verschwindet, den sie aus dem Wohnzimmerfenster hineingesetzt hat. „Angst habe ich keine“, sagt sie. „Nicht um mich, nur ums Haus.“ Es ist ihr einziger Besitz, und um den hat sie sehr schwer gekämpft. Sogar dann bleibt sie cool, als sie zwei aneinander gefesselte Leichen vorbeitreiben sieht. Als das technische Hilfswerk sie evakuieren will, sollen die Helfer nicht sie retten, sondern nach den Leichen schauen. Die störrische Gudelia will in ihrem Haus ausharren. Koste es, was es wolle.
Thomas Knüwers Debütroman DAS HAUS IN DEM GUDELIA STIRBT ist ein Hammer. Gewieft wie ein alter, erfahrener Autor navigiert Knüwer zwischen drei Erzählebenen, den Jahren 1984, 1998 und heute, geschickt baut er weite Spannungsbögen auf. Seine Hauptfigur und Ich-Erzählerin ist Gudelia Krol. Sie gehorcht nur ihrem eigenen Kompass, handelt gänzlich anders, als von ihr erwartet wird. Und das nicht nur im Alter, sondern auch schon vierzig Jahre zuvor, als ihr über alles geliebter Sohn Nico erschlagen in einem Straßengraben lag.
Für mich gehört diese Gudelia in die Reihe der großen widerspenstigen Alten Damen der Weltliteratur, zu Brechts MUTTER COURAGE oder DIE UNWÜRDIGE GREISIN, zu Dürrenmatts BESUCH DER ALTEN DAME.
„Schuld schwimmt oben“ – mit diesem Satz intoniert Thomas Knüwer die Grundstimmung des Romans: Wie Schuld nach oben treibt, und wie in der allgemeinen Katastrophe das offenbart wird, was oft allzu oberflächlich eine „menschliche“ Katastrophe genannt wird. Die fest im Volksglauben und noch fester im Glauben an sich selbst verwurzelte Gudelia muss sterben. Weil sie vor vierzig Jahren überwältigt war von obsessiver Mutterliebe. Und es immer noch ist. Ein Debüt, das mir den Atem verschlagen hat: Die Überflutung bringt es an den Tag.
Thomas Knüwer: Das Haus in dem Gudeslia stirbt
Pendragon, 290 Seiten, 2024
Dieser Beitrag wurde leicht verändert am 18.10.2024 im Deutschlandfunk Kultur gesendet. DAS HAUS IN DEM GUDELIA STIRBT stand auf der Krimibestenliste Oktober auf Platz 10.
Dieter Güth - 66346 Püttlingen meint
Hallo TOGO
Ihr heutiger Bericht beginnt mit:
In Unterlingen herrscht Chaos. Der kleine Murbach ist zum reißenden Strom angeschwollen, die unteren Stockwerke der meisten Häuser sind bereits überflutet…
Das haben meine Frau und ich (ein altes Paar) dieses Jahr an Pfingsten selbst erlebt :-(.
Nur dass der Ort Püttlingen heißt und der Bach Köllerbach.
Am 17.5.2024 wurde unser gesamter Keller vom Köllerbach in einer Höhe von 1,5 m überflutet.
Nach Absinken und Auspumpen des Wassers durch die Feuerwehr,
wurde das Ausmaß der Zerstörung sichtbar.
Für uns eine Jahrhundertflut mit großem Schaden.
Den Krimi muss ich wohl lesen ;-).
Beste Grüße
Dieter Güth
Tobias Gohlis meint
Lieber Herr Güth,
Sie haben Recht: Unterlingen ist überall, wo der Klimawadel und die Geographie zuschagen. der Autor hat wohl eher an Überlingen am Bodensee gedacht – da gibt es Hnweise.
Ihren konkreten Fall kann ich dank der erschütternden Schilderungen Knüwers gut nachempfinden und kann mir, selbst über die Siebzi hinaus, Ihr Leid und das Desaster gut vorstellen. Alles kommt durcheinander. Den Krimi kann ich Ihnen natürlich nur empfehlen, auch wenn, wie der Titel schon sagt, Gudelia nicht überleben wird. Das ist Ihnen ja gelungen, gratuliere!
Herzlich Ihr Tobias Gohlis