Sieben neue Titel: je einer aus Israel, den Niederlanden, Schottland, Italien und den USA, zwei aus Deutschland.
Die Schauplätze: Israel, Naher Osten, Kolumbien, USA, München, Starnberger See, Nordsee, Ameland, Norderney, Cuxhaven, Delfzijl, Frankfurt/Main, Zürich, Edinburgh, Palermo, Rom, „Denton“, Arkansas.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit zwei Jahren und zwei Monaten.
Platz Eins im Mai und neu auf der Krimibestenliste:
1 Maror (Maror)
Vor mehr als zehn Jahren, 2013, stand der israelische Autor Lavie Tidhar bereits einmal auf der Krimibestenliste. OSAMA war die irre Geschichte um einen Privatdetektiv, der den Autor von Schundromanen mit dem Protagonisten Osama bin Laden finden sollte. Diese Schundromane handelten unter anderem von realen Bombenattentaten. Eines davon, 1998 auf die US-Botschaft in Nairobi, hat Lavie Tidhar, damals 22 Jahre alt, als Augenzeuge miterlebt.
Ganz so ineinander verknäult wie in OSAMA sind Fakten, Fiktion, Mythos und literarische Erfindung in MAROR nicht. In einem kleinen englischen Kulturmagazin erklärte Tidhar August 2022 seine Arbeit als selbstentdeckter historischer Detektiv. Ausgehend von einigen bekannten Ereignissen grub er tiefer und tiefer in der Verbrechens- und Realgeschichte Israels.
MAROR erzählt Unterwelt- und Verbrechensgeschichte Israels in Ein- oder Zweijahressprüngen von 1974 an. Parallelen zu aktuellen Ereignissen drängen sich auf. 1974 wäre Israel im Jom-Kippur-Krieg (Jom Kippur war auch das Datum des Massakers der Hamas 2023) beinahe von Syrien und Ägypten in der Feiertagsruhe überrollt worden. Die Angreifer wollten die Gebietsgewinne, die Israel 1967 im Sechstagekrieg erzielt hatte (Westjordanland, Sinai, Golanhöhen, Gaza) rückgängig machen, wurden aber zurückgeschlagen. Von da an schaukelte Israels Politik zwischen Aufrüstung und Siedlungspolitik einerseits (Nie wieder überumpelt werden!) und Friedenspolitik mit den Nachbarn andererseits. Tidhar zeigt ein Land, in dem Modernisierung und Archaisierung keine Gegensätze sind.
Eine zentrale, leicht verschlüsselte Figur in MAROR ist der General mit Spitznamen „Dschinghis“. Jeder informierte Israeli erkennt dahinter den dekorierten General, Knesset-Abgeordneten und späteren Tourismusminister „Ghandi“ Rechaw’am Ze’ewi. Tidhar rollt mit den Mitteln der Fiktion auf, wie dieser Ultranationalist gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten und Partnern aus dem Mob nach 1967 systematisch, geheim und widerrechtlich Grundstücke im Westjordanland aufkauft, Voraussetzung einer später auch als Politik propagierten Vertreibung der dort lebenden Palästinenser. Dass „Dschinghis“ auch ein Serienvergewaltiger und Mörder war, deckt Reporterin Sylvie Gold auf, eine der wenigen positiven Figuren zwischen Verbrechern, korrupten Politikern und Polizisten, die in MAROR auftreten.
Doch ist MAROR kein Schlüsselroman oder Enthüllungsbuch, sondern ein epischer Kriminalroman. Vergleichbar mit Don Winslows TAGE DER TOTEN oder jüngst James Kestrels FÜNF WINTER. Bemerkenswert: Immer besteht eine Beziehung zwischen Krieg und Kriminalität. Bei Winslow wird der gewaltsame und teils illegale Kampf zum „Krieg gegen die Drogen“ überhöht, bei Kestrel hängt der Krieg als Zufalls-Rahmen für eine detektivische Ermittlung niedriger. Bei Tidhar gibt es keine Überhöhung: der ständige Kriegszustand, in dem sich Israel mit Unterbrechungen seit 1947 befindet, ist schlicht Motor, Hemmnis und Gelegenheit für kriminelle Geschäfte, sei es Drogenschmuggel, Waffenhandel oder der Verkauf von Söldnern. Krieg im Innern (MAROR beginnt mit einer Autobombe als Auseinandersetzung zwischen Gangstern) und Krieg nach Außen (Krieg gegen Libanon als Chance, an die Mohnfelder im Bekaatal ranzukommen und in die French Connection einzusteigen) unterscheiden sich nicht.
Weshalb ein ganz neuer Typ Antiheld, der Polizist Cohen, verwandt mit der schillernden Figur des Ewigen Juden, die einzelnen Episoden MARORs verbindet. Er ist von allem ein bisschen: Söldner, Krimineller, Mittler, gesetzloser Gesetzeshüter, Mörder. Er hält sich im Hintergrund, taucht aber immer in den entscheidenden Situationen (auch im Ausland) auf. Es gibt nur drei Konstanten in seinem Leben: seine Rolle als selbsternannter Ordnungsfaktor, seine Liebe zur Enkeltochter und die Bibelsprüche, die er passend zu zitieren weiß. „Habgier treibt mich nicht an, sondern das Bedürfnis nach Stabilität. ›Der Habgierige erregt Streit, / wer auf den Herrn vertraut, wird reichlich gelabt‹. Buch der Sprüche 28.“ erklärt er. „Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden.“
Der Zynismus des Pragmatikers. Nachdem Cohen Zeuge wird, wie sein langjähriger Adlatus und Kampfgefährte (vermutlich auf seinen Befehl) erschossen wird, gibt ihm Tidhar das letzte Wort in diesem großartigen Epos: „Ich liebe dieses Land“.
Ich habe auf Deutschlandfunk Kultur über MAROR gesprochen. Den Text dazu finden Sie hier.
Außerdem neu auf der Krimibestenliste Mai:
3 Lichtjahre im Dunkel
„Tabor Süden“ war mal ein Pseudonym des jungen Schriftstellers Friedrich Ani, wurde dann zum Namen seiner bekanntesten Figur. Jetzt, im glaube ich, vierzehnten Roman mit Süden, LICHTJAHRE IM DUNKEL, wird der Privatdetektiv von einer polizeiaversen Ehefrau engagiert, ihren nach dem Kneipenbesuch verschwundenen Mann und Geschäftspartner wieder aufzufinden, bleibt, als die Polizei (in Gestalt Fariza Nasris, auch eine Ani-nahe Figur) inzwischen wegen Mordes ermittelt, lange verborgen, um sich zum Schluss als Ich-Erzähler des Romans zu outen.
Ani verbeugt sich am Ende dieser unendlichen Geschichte von Vegetierenden im Dunkel vor einem seiner literarischen Fixsterne: dem uruguayischen Autor Juan Carlos Onetti. Der ruht im Bett und befragt den Autor Tabor Süden:
„‘Deine Beschwörung all der Versehrten, die nicht fassen können, welche Faustschläge ihnen das Schicksal zumutet … All der Unbeholfenen und Strauchelnden…Deine Leute eben… Wolltest du den Tod trösten und ihm die Last erleichtern, indem du sie verewigst?‘ ‚Den Tod‘, erwiderte ich, ‚kann niemand trösten.‘“
Und ungetröstet bleiben auch die Detektive zurück. Fade out.
4 Der Retter (De Redder)
Mathijs Deen sagt von sich, er sei gar kein Mann der See, sondern des Festlands. Vielleicht braucht es diesen festen Stand aus der Ferne, um so fasziniert und verzaubernd von den schweigenden Männern zu erzählen, die alles, was sie auf See erlebt haben, dort draußen auch lassen.
Es sei denn, ihnen wird, wie den Seenotrettern auf Norderney von einem dankbaren Vater ein Denkmal errichtet. Sie mögen es nicht, nur weil sie eben Retter sind. Wie Deen in einer weit in der Zeit und die Welt ausholenden Kriminalgeschichte diesem Denkmal seinen Sinn nimmt, bis es abgebaut wird – das ist große Klasse.
Höhepunkt seiner Erzählkunst ist ein Verhör, das der ebenfalls sehr wortkarge Kommissar der Bundespolizei/See Liewe Cupido mit einem der redegewandtesten und verschwiegensten Seenotretter führt, bis der nicht mehr anders kann, als mit der Wahrheit rauszurücken.
7 9 mm Cut
In DAVENPORT 160X90 war es ein Gartentisch von OBI, der den Titel lieferte. In 9 MM CUT glättet ein Smart Meadow 350 die Rasenflächen von Millionärsvillen in Zürich. Sonst ist nichts glatt, nicht mal der See, wie aus Hanspeter Eggenbergers begeisterter Rezension des zweiten Romans von Sybille Ruge hervorgeht, sondern crooked und korrupt.
8 Die Gabe der Lüge (Past Lying)
Um diesen siebten Roman mit DCI Karen Pirie hatte sich Val McDermid ins Covid-19-sicherste Land zurückgezogen, schreibt die schottische Queen of Crime im Nachwort: nach Neuseeland. Dort konnte sie sich eindrucksvoll an die Qualen erinnern, die der Lockdown des Aprils 2020 ihrer Ermittlerin auferlegte.
Eigentlich ist das unvollendete Manuskript eines Krimis, das ihnen eine Bibliothekarin aus dem Nachlass des verstorbenen Autors Jake Stein zuspielt, nur Lebenshilfe gegen die Langeweile in der Not-Wohngemeinschaft von Karen und ihrer DS Daisy. Doch stellt sich heraus, dass Steins Text verblüffende Details über das Verschwinden und den Mord an einer Studentin enthält, die Piries Historic Crime Unit schon seit einem Jahr beschäftigt. Und schon beginnt sie zu forschen, zu entschlüsseln.
Selten wurde das Motiv des Romans im Roman so raffiniert wie in DIE GABE DER LÜGE ausgespielt. Gewürzt wird das Rätselraten um die Rivalität zweier schachspielender Schriftsteller durch Anekdoten über diesen Beruf. Eine selbstironische Hommage auf das Label „Tartan Noir“, das die Autoren gar nicht mögen, die Schubladen-Liebhaber umso mehr. Hier finden Sie ein Interview von Jurymitglied Sylvia Staude mit Val McDermid.
Schotten überall: Im selben Nachwort bedankt sich Val für die freundschaftliche Betreuung an der Uni in Otago durch „meinen Chef, Professor Liam McIlvanney“. Der ist nicht nur der Sohn von William McIlvanney, der die Renaissance der modernen schottischen Kriminalliteratur einleitete, sondern selbst ein beachteter Krimiautor.
9 Falcone (Solo e‘ il coraggio. Giovanni Falcone, il romanzo)
Allein ist der Mutige – dieser Titel trifft nicht nur auf Giovanni Falcone, den 1992 mit einer Bombe ermordeten Mafia-Jäger und Untersuchungsrichter zu, sondern auch auf den Verfasser des Romans Roberto Saviano, der seit 2006, seit der Veröffentlichung seines Sachbuchs GOMORRHA mit Namen der napolitanischen Camorra unter Polizeischutz leben muss.
FALCONE ist ein Tatsachenroman: Unter dem Link hat sein Verlag dankenswerter Weise ein fünfzigseitiges Verzeichnis der Quellen hinterlegt. Nur zum Nachschauen.
Saviano hat aus den letzten Jahren dieses charmanten, heiteren und unendlich tapferen Mannes und seiner Mitstreiter einen großen Roman gemacht. Lesen Sie hierzu die hymnische Rezension von Jurymitglied Alf Mayer im Culturmag.
10 Bis aufs Blut (Don’t Know Tough)
Eli Cranor, Jahrgang 1988, versteht viel vom American Football und von Arkansas. Er war selbst als Quarterback Profi und Footballtrainer, bis er zu unterrichten und schreiben begann. Er ist in Arkansas aufgewachsen. Kein Wunder also dass sein viel gelobter Roman BIS AUFS BLUT (2023 „Edgar“ für das beste Debüt) in diesem Milieu spielt. Das fiktive Denton wird beherrscht von Football, also sind der Trainer und der Direktor der High-School, deren Team, die Pirates, zum ersten mal seit Jahren eine Chance auf das Playoff haben, die wichtigsten Leute am Ort. Noch wichtiger ist nur Billy Lowe, ein 18jähriger Runningback, dessen Unbeherrschtheit, Robustheit und Entschlossenheit zu Gewalt unverzichtbar sind für den Sieg.
Problem eins: Billy kommt aus einem Trailercamp und wird als Asi verachtet und gehänselt. Weshalb er einem der tonangebenden Spießerknaben seiner Crew eine verpasst und von den Vorrundenspielen ausgeschlossen wird. Problem zwei: Der neue Trainer. Der stammt aus Kalifornien, kommt also mit den Rednecks von Arkansas gar nicht klar, und will zudem Billy zu Gott bekehren. Problem drei: Der Trainer hat eine abenteuerlustige Tochter. Als Billys sadistischer und verhasster Stiefvater getötet wird, drohen alle Kräfte der Zerstörung über Billy zusammenzukrachen. Voller überraschender Wendungen, klischeefrei dank intimer Kenntnis der Verhältnisse und ihrer literarischen Durchdringung.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE MAI?
Die KRIMIBESTENLISTE MAI ist seit Freitag, dem 3. Mai 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste Mai gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 3. Mai habe ich über die aktuelle Nummer Eins MAROR gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Mai.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Maitage!
Ihr Tobias Gohlis
Schreibe einen Kommentar