Vier neue Titel: drei aus Deutschland, einer aus Schweden. Die Schauplätze: Moskau, Pullach, Berlin, Frankfurt am Main, München, „Gasskas“.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 23 Monaten.
Nicht dem häufig geäußerten Wunsch nach mehr Titeln aus dem deutschsprachigen Raum sind wir mit drei von vier neuen Titeln in der Krimibestenliste November nachgekommen. Sondern dem altbewährten Prinzip Qualität, nicht Nationalität.
Platz Eins im November:
1 Wie Sterben geht
Ehrlich gesagt, mir fehlen die Worte.
Nach einem ziemlich großen Artikel in der ZEIT und einer kürzeren Lobeshymne am Freitagmorgen im Deutschlandfunk Kultur zitiere ich einen Leserinnenkommentar auf ZEIT online: „Das hat mich neugierig gemacht. Werd mir den Mann mal reinziehen!“
WIE STERBEN GEHT von Andreas Pflüger ist etwas ganz Seltenes: ein knallharter, actionreicher Spionageroman, der zugleich poetisch und politisch ist.
5 Memoria
Zoë Beck erforscht gerne Zukünftiges. Nach der Dystopie PARADISE CITY von 2020 über eine weit in der Zukunft liegende Gesundheitsdiktatur spielt MEMORIA im nahen Futur, das grauslich genug ist.
Die Klimakatastrophe ist verschärft, die soziale Katastrophe ist auf dem Fuße gefolgt. Beides als Hintergrund mit wenigen anschaulichen Strichen skizziert. Bei der Rettung einer alten Frau, die sich alleine nicht aus ihrem Hochsicherheitshaus vor dem drohenden Waldbrand befreien kann, tut Harriet Erstaunliches. Obwohl sie keinen Führerschein hat und auch nicht fahren kann, übernimmt sie das Steuer eines rettenden Fahrzeugs und kutschiert die alte Dame aus der Feuerzone. Bei der Neuausstellung ihrer verbrannten Papiere erhält sie auch einen Führerschein. Bald mehren sich Hinweise, Gedankenfetzen drängen sich auf, dass Harriet nicht immer unter prekären Verhältnissen Klavierbauerin und Securitykraft in einem Luxuskaufhaus war. Sie macht sich von Frankfurt aus auf nach München, wo sie ihr Elternhaus, das vorgeblich verkauft wurde, unversehrt vorfindet, hilfsbereite Nachbarn und sogar ein Vermögen, das sie verschwunden glaubte.
Die alte Umgebung und neue Bekannte helfen ihr, verschüttete Erinnerungen zu aktivieren. Zoë Beck greift dabei auf einen persönlichen Erfahrungsschatz zu. Wie ihre Protagonistin Harriet war sie eine talentierte Pianistin, gab bereits als Kind Konzerte, musste dann als Folge einer teilweise misslungenen Handoperation die professionelle Karriere aufgeben. „MEMORIA ist keine Autofiction“, betont sie.
Welches Schicksal Harriet vom Klavier und beinahe aus dem Leben katapultiert, hat Zoë Beck in den Zwiebelschalen eines raffinierten Plots verpackt, der mit Gedächtnisraub, familiärer und toxischer männlicher Gewalt gespickt ist.
9 Kellerassel
Isabel Keppler, die misanthropische Gelegenheitsarbeiterin und Ex-Studentin in der Berliner Katzbachstraße, die bereits dem vorausgegangenen Thriller von Regina Nössler den Titel gab, kommt aus ihrer Souterrainwohnungnicht so schnell nicht heraus.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Corona und Lockdown holen sie aus dem dunklen Loch. Der Teilzeitjob in einem Impfzentrum bringt sie mit zwei Jüngeren in Kontakt, die je auf ihre Weise Isabels isolierte, maximal unverbindliche und selbstfixierte Lebensführung teilen. Oliver ist hoch verschuldet, weil selbst die hohen Alimente, die seine Eltern dem angeblich intensiv Studierenden zukommen lassen, den Anforderungen seines dandyhaften Lebensstils nicht gewachsen sind. Toni hingegen haust, ihr materieller Background ist eine Erbschaft, in einer völlig vermüllten Wohnung und plant, irgendwie ihren Vater zu bestrafen, der zufällig auch der Bekannte Isabels ist, der sie hin und wieder zum Essen einlädt. Als KELLERASSEL wird Isabel von Spießbürger Baumann beschimpft und bedroht. Sie hat ihn schon einmal (in KATZBACH) erpresst, und er will sie jetzt endgültig loswerden, bevor sie ihm wieder teuer erarbeitetes Geld abknöpft oder bei der Polizei wegen Mordes anzeigt.
Zu den lästigen Zwängen, die die Außenwelt den Einzelgängern das Monadenleben vermiesen, kommt noch die Hitze der vertrocknenden Hauptstadt, und schon brechen ihre innig gepflegten Illusionen von Selbstmächtigkeit und Gutmenschentum zusammen. Nössler schwebt als teilnehmend-beobachtender Geist über ihren Figuren, berichtet amüsiert mit lässiger Eleganz über deren Versuche, autonom in der Großstadt zu leben. Mancher kommt dabei unter die Räder.
10 Verderben/ Havsörnens Skrik
Lisbeth Salander kämpft weiter. Die Erben Stieg Larssons haben nach David Lagercrantz für die zweite nun für die dritte Millennium-Trilogie die Autorin Karin Smirnoff verpflichtet. VERDERBEN ist der Titel ihres ersten Romans, dessen schwedischer Titel HAVSÖRNENS SKRIK (deutsch: Der Schrei des Seeadlers) wie auch die beeindruckende Eingangsszene mit einem einsamen Gebirgler, der Seeadler füttert, deutlich höhere literarische Ambitionen und Fähigkeiten signalisiert als die der männlichen Vorgänger. Karin Smirnoff ist eine in Schweden gut bekannte und vielfach ausgezeichnete Autorin von Romanen. Dem leicht ermatteten Serienmodell haucht sie nicht nur durch einen frischen, in der ersten Hälfte literarisch durchgearbeiteten Stil neuen Atem ein, sondern auch die Erwartungen weckende Beigabe einer neuen Figur. Lisbeth muss sich nämlich um ihre Nichte Salva kümmern: Großmutter ist tot, Mutter in den Fängen eines Verbrechers. Salva hat die Anlagen zu einer neuen Superheldin. Vom Vater hat sie die Schmerzunempfindlichkeit, von mütterlicher Seite die mathematisch-intuitive Begabung, die sie Safes knacken lässt wie andere Kinder Keksdosen öffnen.
Mikael Blomquist, den Smirnoff am liebsten umbringen würde, wie sie Marcus Müntefering verriet, kommt aus familiären Gründen ins nordschwedische „Grasskas“, Lisbeth ebenso, und gemeinsam mit Salva gehen sie gegen den bösartigen Beherrscher eines Windparkimperiums vor, der Natur, Frauen und samische Traditionen schändet. Man lernt: Wo Geld verdient werden kann, und sei es ökologisch, ist das Verbrechen nicht weit. Mikaels Beratertätigkeit beim Lokalblatt von Gasskas, Smirnoffs neue Lebendigkeit und Lisbeths Unzerstörbarkeit: außer dem Gelddrucken drei Faktoren, die für das Weiterleben der Serie sprechen.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER?
Die KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER ist seit Freitag, dem 3. November 2023, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER hier.
Jurymitglied Kolja Mensing hat hier über die Krimibestenliste November gesprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 3.11., habe ich über die aktuelle Nummer Eins WIE STERBEN GEHT gesprochen.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste November.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Herbsttage!
Ihr Tobias Gohlis
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