Die Krimibestenliste 2023: zehn supergute Krimis, davon vier aus den USA, zwei aus Deutschland, je ein indischer, ein italienischer, ein französischer und ein niederländischer
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 22 Monaten.
Mein Newsletter zur Krimibestenliste des letzten Jahres begann mit hemmungsloser Schwärmerei: „So viel Vielfalt, Internationalität und vor allem Qualität hatten wir seit Gründung der Krimibestenliste 2005 noch nie.“
In dem Ton müsste ich für das Jahr 2023 fortfahren, nur gesteigert in allerhöchsten Tönen. Mit einer winzigen Differenz in puncto Internationalität: Heuer dominieren die US-Amerikaner mit vier Titeln etwas stärker.
Aber die stilistische Diversität ist noch größer, sie ist formidabel!
Jeder der zehn Kriminalromane auf der KRIMIBESTENLISTE 2023 könnte als Modell für ein eigenes Subgenre, für eine eigene Art, zeitgenössische Kriminalliteratur zu schreiben, stehen.
1
FÜNF WINTER (Five Decembers) von James Kestrel, der sich bereits als Jonathan Moore einen beachteten Namen erschrieben hat, ist unbestritten die Nummer Eins des Jahres. Als hätte er für die Aktualität heute geschrieben, überschreitet Kestrel die Genrelimitierung auf „kleine“ Verbrechen.
Moralisch ist es unerträglich, zwischen gerechten und ungerechten Kriegen zu unterscheiden. Jeder Krieg fordert Menschenleben. Und so wie die Todesstrafe auch für schuldig gewordene oder besser: als schuldig verurteilte Täter nicht mit der Würde des Menschen vereinbar ist, ist jeder Krieg ein großes Verbrechen.
Ist es nicht ekelhaft, wenn je nach Nation 20 oder 30 oder 40 zivile Todesopfer im humanitären Völkerrecht als gerechtfertigt gelten, wenn dafür ein Hauptziel (z.B. ein Hamas-Führer) liquidiert wird? Ethik als die Kunst, verantwortungsvoll praktische Entscheidungen zu treffen, bezieht ihre Rechtfertigung aus dem obersten Gebot, menschliches Leben nicht anzutasten.
Jede Entscheidung zu Gewalt, etwa über das Ausmaß einer gerechtfertigten Verteidigung – sei es individuelle Notwehr, die Zerstörung einer Terrororganisation oder die Veteidigung eines überfallenen Landes – kann nur in der Abwägung getroffen werden, welche der Handlungen schuldhafter und weniger schuldhaft ist, weniger menschliche Opfer kostet.
Gemessen an diesen prinzipiellen Erwägungen ist Kestrels FÜNF WINTER ein sehr guter Kriminalroman. Alle Stadien großer, militärischer bis zur individuellen sadistischen Gewalt werden geschildert, der Tod einzelner wie vieler ist im Einzelfall manchmal Strafe oder Vergeltung, meistens aber blinder Zufall.
FÜNF WINTER erzählt die Geschichte Joe McGradys, des Detektivs, der durch den zweiten Weltkrieg hindurch von Hawaii bis Tokio und zurück einen Mörder und Veräter verfolgt, nur zufällig am Leben bleibt und seelisch aufrecht erhalten wird durch die Liebe, die er von zwei Frauen erfährt und imaginiert. Kestrel gelingt es in diesem Meisterwerk, das ein Kriminal-, ein Spionage- und ein Liebesroman ist, von den großen und ganz kleinen ethischen Fragen des Lebens, des anständigen Überlebens zu erzählen. So ergreifend, das man erschüttert flucht, wenn es nach 500 Seiten endet.
Ich habe FÜNF WINTER nach seinem Erscheinen mit Don Winslows Paukenschlag TAGE DER TOTEN von 2005 verglichen. Im Nachhinein bleibt von diesem Vergleich die beeindruckend große Räume, Kulturen und Dekaden umspannende Erzählung gültig. In den anderen Dimensionen übertrifft Kestrel Winslow bei weitem: Sein Plot ist lebendiger, hautnaher, vieldimensional, schildert kollektive Schicksale (Hongkong als Kronkolonie und japanisch besetzte Stadt) wie individuelle, verknüpft sie miteinander und den Wirrnissen der Geschichte. Kestrel ist farbiger, überraschender (ein harter japanischer Geheimdienstler handelt als Menschenfreund), trotz aller Wucht und bis zur Unerträglichkeit geschilderten Gewalt überwältigt Kestrel seine Leser nicht, sondern lässt sie teilnehmen und beobachten. FÜNF WINTER ist einfach großartig.
Das sind die anderen Leseempfehlungen der Jury, eine toller als die andere:
2
Megan Abbott AUS DER BALANCE ist ein Kammerspiel über Ehrgeiz und Zwang, und die Versuche daraus auszubrechen, über die unerträglichen psychischen Gewaltverhältnisse einer Familien-Kleinstgruppe mit einem idiosynkratischen Ziel, der künstlerischen Vollendung, und über die kleinen und größeren Lügen, Fluchten und Betrügereien, mit denen dieses Korsett verschnürt ist.
3
Percival Everetts DIE BÄUME ist ein wunderbar groteske, surreale Rache- und Vergeltungsphantasie. Quasi im Gedenken an den berüchtigten realen Lynchmord an Emmett Till 1955 und den Freispruch seiner rassistischen Mörder erheben sich die gemordeten, gelynchten und vergewaltigten Schwarzen der USA. Eine Armee der Untoten steht auf und mordet, beginnend mit den freigesprochenen Überlebenden dieses Justizverbrechens, weiße Rassisten auf die Art und Weise, mit der sie selber über Jahrhunderte umgebracht wurden.
4
Deepti Kapoor: ZEIT DER SCHULD ist der Beginn eines als Trilogie angelegten Geschichtspanoramas der Klassen- und Kastengesellschaft in Nordindien. Kern der unter den Ärmsten wie unter den Reichsten spielenden Handlung ist der Aufstieg und Fall Ajays, der sich als Untergebener und Handlanger einer reichen Verbrecherdynastie opfert und deren Strafe im Knast absitzt, in der Hoffnung, danach wieder aufsteigen zu können. Die Gesellschaft als Gefängnis der Armen. Ein Schwellenland wiederholt auf seine eigene barbarische Weise die ökologischen, sozialen und seelischen Verbrechen des westlichen 19. Jahrhunderts.
5
Nicola Lagioia DIE STADT DER LEBENDEN ist wieder (nach Truman Capote und Rodolfo Walsh) einer der großen, erschütternden Tatsachenromane, der im Unterschied zum sensationlüsternen True Crime nicht schaudernd die Hände rauft: Wie konnnt das nur passieren? Wie kann mensch nur so böse sein? In der minutiösen, die eigenen intellektuellen, psychischen und juristischen Selbstzweifel und Selbstgespräche integrierenden Rekonstruktion eines anscheinend sinnlosen Mordes und der gesellschaftlichen und medialen Reaktion darauf destruiert Lagioia mit allen dokumentarischen erzählerischen Mitteln die immanente Selbsttäuschung nicht nur der Kriminalliteratur, sondern der Aufklärung: Wenn nur das Schrecklichste benannt und erklärt ist, kann es vermieden, neuhochdeutsch „gehandelt“ werden. „Werch ein Illtum“. Nichts wird verständlicher, aber erzählt.
6
Yasmin Angoe: ECHO DER GEWALT. Auch hier wieder ein Rachegeheul, diesmal angestoßen von einer jungen Schwarzen. In ihrer Heimat Ghana von heimischen Marodeuren vergewaltigt, agiert sie, verkauft in den reichen Westen, als Racheengel. Comics zeichnen grell und dieser endet gut wie im Märchen.
7
Andreas Pflüger: WIE STERBEN GEHT ist ein berauschendes Amalgam aus Action, Spionage und Lovestory. In der Hochphase des Kalten Krieges wächst die toughe Slawistin Nina Winter als BND-Agentin über sich hinaus zur klug kalkulierenden, todesmutigen Kämpferin beim Versuch, das Unmögliche zu bewerkstelligen: einen hochrangigen Westspion aus Moskau in die BRD zu schaffen. WIE STERBEN GEHT ist dichte, wundervolle Spionage-Poesie.
8
Jan Costin Wagner: EINER VON DEN GUTEN verlegt die Gewissenshölle in die verdruckste, verkorkste Seele eines Mannes vom Sicherheitsapparat. Ben Neven, aus vorausgegangenen Romanen bekannter pädophiler Starermittler gegen Kindesmissbrauch, schreitet zur Tat und vergewaltigt einen jungen von seinem Vater zur Prostitution gezwungenen Stricher. Moralische Gratwanderung auf der Rasierklinge: Neven hält sich als einer von den Guten.
9
Laurent Mauvignier: GESCHICHTEN DER NACHT ist das literarisch kunstvollste Buch auf der Krimibestenliste 2023. Mauvignier wiederholt in extremer Verlangsamung die Grübeleien, Erwägungen und Handlungen, die Enge und Zwangslage der Protagonisten: Ein Ehepaar, ihre Tochter und die Nachbarin werden in einem winzigen Weiler als Geiseln genommen, um ihnen ein Geständnis abzupressen. Das, was man sich nicht mal selbst eingestehen, nie sagen wollte, soll raus.
10
Im einzigen Kriminalroman der KRIMIBESTENLISTE 2023, der dem traditionellen Schema „Fall-Polizeiermittlung-Aufklärung“, wenn auch auf sehr raffinierte Weise verhaftet ist, in DER TAUCHER, schickt Mathijs Deen seinen deutsch-niederländischen Ermittler Liewe Cupido auf den Meeresgrund der Deutschen Bucht. Ausgerechnet im Wrack mit wertvoller Schmuggelware hat ein sadistischer Täter alte Familienkränkungen rächen wollen.
Die KRIMIBESTENLISTE 2023 ist die Auswahl der Auswahl: Wir präsentieren die zehn besten von insgesamt 64 Kriminalromanen, die bei Deutschlandfunk Kultur jeweils am ersten Freitag des Monats 2023 vorgestellt wurden. In Deutschlandfunk Kultur können Sie am 15.12.23 ab 10:05 in der „Lesart“ ein Gespräch über die zehn besten Krimis 2023 zwischen Kolja Mensing, unserem zuständigen Redakteur, und Tobias Gohlis, dem Sprecher der Jury, hören, moderiert von Andrea Gerk.
Bei Deutschlandfunk Kultur ist die KRIMIBESTENLISTE 2023 als zweiseitiges PDF hier zu finden.
Ein ausdruckbares einseitiges PDF der KRIMIBESTENLISTE 2023 finden Sie hier, und auf https://recoil.togohlis.de/die-krimibestenliste/ können Sie das Archiv aller Krimibestenlisten durchstöbern. Wir danken allen Bloggern, Zeitungen, Medien, die die Krimibestenliste durch Abdruck und Kritik unterstützt haben und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihre Treue und Ihre guten Ratschläge.
Im Namen der Jury wünsche ich Ihnen friedliche Adventstage, frohe Weihnachten und ein gutes Jahr 2024 mit schönen Erlebnissen und prima Lektüre.
Hamburg, am 15.12.2023