Wie schreibt man politische Kriminalliteratur? Ein Gespräch mit den Autoren Max Annas und Christian v. Ditfurth.
DIE ZEIT: Max Annas, Christian v. Ditfurth, Sie schreiben sehr unterschiedlich, aber Sie lassen sich beide als „linke Autoren“ identifizieren?
Max Annas: Ich fühle mich nicht beschimpft, wenn jemand nach der Lektüre meiner Bücher feststellt, das sei von einem Linken geschrieben. Aber ich möchte das Buch offenhalten für Leute, die sich nicht als links verstehen.
Christian v. Ditfurth: Ich bin links, immer gewesen. Aber wir brauchen keine Bücher, in denen ein linker Held im Zentrum steht.
Annas: Langweilig!
Ditfurth: Das sind Gesinnungsbücher. Bücher, die mich von irgendwas überzeugen wollen, sind stinklangweilig. Solche Bücher schreibe ich auch nicht. Ich glaube aber, wenn man gesellschaftliche Realität so abhandelt, dass der Blick darauf klar wird, wird deutlich, dass die linke Kritik an dieser Gesellschaft korrekt ist.
ZEIT: Ein anderes gemeinsames Merkmal: Sie schreiben in Serien. Ein Buch allein reicht nicht, um der Welt gerecht zu werden?
Annas: (seufzt nachdenklich)
Ditfurth: Ich habe eine sechsbändige Serie über den Historiker und privaten Ermittler Stachelmann geschrieben. Irgendwie schreibt man sich so in ein Gefängnis der Erwartungen und schränkt seine Möglichkeiten ein. Andererseits ist es interessant, eine Figur über lange Strecken zu entwickeln. Inzwischen, nach elf Kriminalromanen, denke ich: neuer Krimi, neue Serie. Am Beginn von Zwei Sekunden und dem Vorläufer Heldenfabrik stand die Frage, ob ich es wie die Amis politthrillermäßig krachen lassen kann.
ZEIT: Mit dem Stoff hatte das nur sekundär zu tun?
Ditfurth: Ich schreibe nicht, weil gerade der Vegetarismus oder der NSU oder das Hühnerschlachten toll sind, sondern über Themen, die wichtig sind.
ZEIT: Welche?
Ditfurth: Wir lassen uns von Aufregern täuschen, sehen aber nicht, welche Konflikte wirklich langfristig bedeutsam sind. In Heldenfabrik ging es um Pervitin. Die USA forschen daran, weil sie die Schlagkraft der Armee erhöhen wollen, ohne neue Soldaten einzustellen. Oder jetzt in Zwei Sekunden: Weil der Ölpreis sinkt, interessiert sich kein Schwein mehr für die Arktis und das Öl dort.
ZEIT: Aber ein paar raffinierte Unternehmer wollen sich Zugang zum Arktis-Öl verschaffen. Denken Sie so strategisch?
Annas: Für mich ist das klassisch All the President’s Men [Die Unbestechlichen]. Da gibt’s oben die Macht: böse, gemein und fies. Weiter unten die guten Reporter: Bernstein, Woodward. Am Ende ist die Macht beschädigt, Figuren werden ausgewechselt. Der Politthriller spielt oben – das ist nicht mein Ding. Meine Figuren agieren unten. Wenn ich über eine neue Geschichte nachdenke, beginne ich mit Figuren, die nicht Macht, sondern ihre Auswirkungen erleben. Auch das Buch, das im Frühjahr 2017 erscheint und in Berlin spielt – Illegal –, handelt von Menschen unten, ohne deutschen Pass.
ZEIT: Was unterscheidet einen politischen von einem „normalen“ Kriminalroman?
Annas: Im typischen apolitischen Krimi wird der Mord als Anomalie verstanden, als Unterbrechung der Regeln, und am Ende ist alles wieder in Ordnung. Das ist langweilig.
Ditfurth: … aber erfolgreich.
Annas: Ich finde diese Prämisse von der Anomalie grundfalsch. Menschen töten Menschen. Das passiert ständig, durch Einzelne wie durch Armeen. Halb aktiv, halb passiv sind wir etwa am Töten im Mittelmeer beteiligt. Wir überschätzen unseren zivilisatorischen Standard. Töten gehört zum Alltag, und darüber haben wir zu schreiben.
ZEIT: Nach der Lektüre der Mauer kann man aber keine politischen Forderungen aufstellen. Da gibt es einen Mann, der in einer Gated Community im südafrikanischen East London nach einer Autopanne Hilfe sucht, da gibt es zwei Einbrecher – alles völlig normal. Und am Ende steht eine Schießerei. Weiße Wachleute, schwarze Polizisten, alle, die in dieser steingewordenen Sicherheitsarchitektur für „Security“ sorgen, bringen sich gegenseitig um.
Annas: Ich sehe das Geschehen in Kreisen. Ein Kreis ist die Geschichte des schwarzen Studenten, der von weißen Security-Leuten gejagt wird. Das Motiv ist Rassismus, das normale Leben in Südafrika. Ein anderer, größerer Kreis ist bestimmt durch das Bild der Mauer. Sie steht für Exklusion: Schwarze kommen nicht rein in die Gated Community, wer drin ist, kommt nicht raus. Man kann den Kreis auch eng ziehen, auf den Alltag in Südafrika bezogen. Zusammengenommen ist das eine politisch motivierte Darstellung des Alltagslebens in Südafrika, nicht nur auf der offensichtlichen Gewaltebene.
ZEIT: Großartig. Aber doch ein von Ihnen konstruiertes Sprachspiel.
Ditfurth: Ist das nicht schon das Politische? Wenn du eine konkrete empörende Realität so darstellst, dass der Leser sich aufregt?
ZEIT: Bei der Lektüre drängt sich der Eindruck auf, dass der schwarze Student dem Rassenfrieden des neuen Südafrika nicht traut. Die Wachleute sind nicht offensiv bösartig. Bevor der Student ihnen seine missliche Lage erklärt, ergreift er die Flucht. Hätte er auch anders handeln können?
Annas: Ich war mit einem Künstler aus Kamerun und einem schwarzen südafrikanischen Journalisten auf Besichtigungstour in meinem damaligen Wohnviertel, kleine Häuschen mit kleinen Gärten für Weiße. Der Kameruner trat an eine Mauer und sagte: „Interessant, das schau ich mir mal näher an.“ Der Südafrikaner: „Wenn du das machst, kommt einer raus und erschießt dich.“ Diese Bemerkung eines schwarzen Mannes zu einem anderen, der sich nicht so auskannte, war für mich von elementarer Wucht. Das war die auslösende Idee für Die Mauer.
ZEIT: Ihre aktuellen Romane dekonstruieren gutgläubige Vorstellungen davon, wie Gesellschaft funktioniert. In Die Mauer die Annahme, in Südafrika könnten Weiß und Schwarz sich friedlich und auf Augenhöhe begegnen. Zwei Sekunden dekonstruiert die Sonntagsreden von „Politik im Dienste der Bürger“. Politik und Polizei geraten außer sich, als Attentate auf Merkel und Putin und später auf weitere Ministerialbeamte quasi zum Ausnahmezustand führen.
Ditfurth: Es ist ganz banal. Es passieren diverse Morde, ein Blutbad, und die Spitzenbeamten fragen sich bloß, was das ihnen nützt und wie es ihnen schadet. Das sind ganz abgebrühte Jungs. Auch in der Wirklichkeit: Wenn jemand zu Tode getrampelt wird, denkt ein Politiker doch nicht an den armen Menschen, sondern daran, wie viele Prozentpunkte seine Reaktion darauf bei der Wahl bringt. Mein Buch zeigt, wie solche Politiker in einer Krisensituation reagieren.
Annas: Ich wurde häufig gefragt, ob die südafrikanischen Bullen wirklich so blöd sind, wie ich sie beschreibe. Tatsächlich ist die Realität oft bizarrer, 2012 beim Bergwerksstreik in Marikana zum Beispiel. Zunächst hat die Polizei zugesehen, wie regierungsnahe Gewerkschafter regierungsferne Gewerkschafter umbrachten. Als die Polizei 34 unbewaffnete Menschen ermordet hatte, trat die Madam Police Commissioner auf und erklärte: „Ich gratuliere Ihnen.“ Wenn ich mit dieser Situation respektvoll umgehen will, muss ich mich fragen: Gibt es überhaupt einen anderen Ansatz als den der Überspitzung?
ZEIT: Die Wirksamkeit der Kriminalliteratur hängt auch von der Überzeugungskraft ihrer Helden ab.
Ditfurth: Mein Protagonist ist aufrichtig, weil es ihm scheißegal ist, ob er rausgeschmissen wird. Eugen de Bodt ist ein Schnösel. Aber mit ihm kann man zeigen, wie Polizeiarbeit funktionieren könnte oder müsste. Die Strukturen sind so, dass er nur mit Unterstützung der Kanzlerin arbeiten kann – völlig absurd! Er hat Einsichtsfähigkeiten, die andere nicht haben. Er hat keinen Beamtenblick, sondern einen politischen, sozialen Blick. Er denkt nicht über die Folgen für seine Karriere nach, sondern darüber, warum diese fürchterlichen Morde begangen werden.
ZEIT: De Bodt benimmt sich, wie man sich benehmen sollte. Entschieden, unbeeindruckt, frech, das macht Spaß. Max Annas, brauchen Sie auch einen Helden?
Annas: Eigentlich nicht, meine Romane sind Ensemblestücke. Als Protagonist, der allein handelt und auf seiner Flucht ganz viele schnelle Entscheidungen treffen muss, ist der Student Moses in der Mauer schon eine Art Held. Aber das ist eher eine Ausnahme.
ZEIT: Welche Rolle spielt die Darstellung innerer Vorgänge, der Psychologie Ihrer Figuren?
Ditfurth: Eine geringe. Man lernt die Leute viel besser durch das kennen, was sie tun.
Annas: Ein Blogger hat geschrieben, dass ihm das Innenleben fehle. Ich fühlte mich so was von bestätigt. Mir sind der Raum und der Ort wichtiger. Stimmt das Setting, entwickeln sich die Figuren schon selber. Die Forderung nach dem Ausmalen der Biografien und Charaktere kommt mir doch sehr altmodisch vor.
ZEIT: Momentan spielen simple Verschwörungstheorien und dumpfe Vorurteile eine wachsende Rolle. Wie entgeht man der Falle, selbst Verschwörungstheorien Vorschub zu leisten?
Ditfurth: Man beschreibt Politik, wie sie ist. Indem man die politischen Strukturen, vom Kriminalrat bis ganz oben, so darstellt, dass das ganz normale Leute sind, die in bestimmten politischen Verhältnissen leben. Diese Verhältnisse geben den Leuten Aufgaben, die sie korrekt erfüllen. Sie tun dabei nichts Schlimmes. Aber in der Gesamtheit kommt Schlimmes dabei raus. Verschwörung gibt’s, Korruption gibt’s – völlig normal. Aber selbst wenn die Leute nur ihren Job machen, ist das Ergebnis eine Katastrophe: kapitalistische Ausbeutung, Umweltzerstörung.
Annas: Darauf kann ich mich nicht einlassen. Wir beschreiben die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sie sehen. Wir gestalten die Bilder. Ich beschreibe sie nach meinem Verständnis und gebe das als Angebot weiter.
Das Gespräch fand in Max Annas‘ Berliner Wohnung im Oktober 2016 statt und wurde im Krimispezial der ZEIT am 3.11.2016 veröffentlicht