Andrea Maria Schenkel schlägt mit TANNÖD ein neues Kapitel auf: Regionalkrimis, die nur dann Regionalkrimis sind, wenn sie keine mehr sind
Das einzige Besondere, das die noch junge deutsche Krimikultur hervorgebracht hat, ist der Regionalkrimi. Entstanden ist er als clevere Marketingidee, die sich als Schreibkonzept erfolgreich etablieren konnte. Als die sozialkritisch orientierten Krimis der Sechziger und Siebziger langweilig wurden, wandten sich einzelne Verlage wie Grafit und Emons — darin ähnlichen Trends der Geschichtsforschung und der Geographie folgend — der unmittelbaren Umgebung und den Alltagserfahrungen von Otto Normalbundesbürger zu.
Warum nicht den Bäcker killen?
Warum sollte nicht mal der Bäcker, bei dem man jeden Morgen die Brötchen holt, erschlagen werden? Warum nicht den türkischen Gemüsehändler an der Ecke umlegen und die Jugendgang von der Nachbarschule aufmischen? Aus diesen Impulsen entstand die ökonomisch recht erfolgreiche, literarisch jedoch meist triviale Subgattung des Regionalkrimis. Ihr wirtschaftlicher Erfolg basiert auf dem Prinzip, dass jeder mal seine 3 Minuten Weltruhm haben möchte: Der Briefkasten an meiner Stammkneipe existiert erst dann, wenn er im Regionalkrimi beschrieben ist. So erfolgreich ist das Konzept, dass es inzwischen in die Marketingstrategien des größten Krimimarkts der Welt, den USA übernommen wurde.
Regionalkrimis sind keine Regionalkrimis
Das Problem der meisten Regionalkrimis ist nur, dass es keine sind. Nimmt man nämlich den Ansatz ernst, der alltäglich erfahrenen Lebenswirklichkeit einen kriminellen Doppelboden einzuziehen, reicht es nicht aus, den Bäckerladen an der Ecke akribisch zu beschreiben und dem Chef dann ein Messer in den Wanst zu stecken. Um einen Platz, eine Straße, ein Quartier zum Sprechen zu bringen, braucht man vor allem Sprache. Daran mangelt es, neben Erzähltechnik und sozialer Phantasie, den meisten sogenannten Regionalkrimis. Deswegen gibt es leider nur sehr wenige Kriminalromane, denen es tatsächlich gelingt, den Eigentümlichkeiten einer bestimmten Gegend und ihres Menschenschlags nicht nur literarisch Gestalt zu verleihen, sondern sie auch noch durch ein Verbrechen und den Prozess seiner Aufklärung sozial und psychologisch zu charakterisieren. Bücher, denen das gelingt, sind kleine Wunder. Zu einem wirklich Erstaunen und Begeisterung hervorrufenden mittleren bis großen Wunder wird so ein Buch dann, wenn es wie im Fall von Tannöd aus dem Nichts auftaucht.
Immer noch unklärt
Tannöd ist das erste Buch von Andrea Maria Schenkel. Sie lebt in einem kleinen Ort in der Nähe von Regensburg und hat für ihr Manuskript unter anderem deshalb einen Verleger gesucht, weil sie ihren drei Kindern und dem Ehemann beweisen wollte, dass das, was sie an ihrem Computer anstellt, keine Spielerei ist.
Wahrhaftig nicht: Ihre Rekonstruktion eines ursprünglich in den zwanziger Jahren geschehenen, bis heute unaufgeklärten Mordes, den sie in die frühen Fünfziger verlegt hat, ist von düsterer Wucht, sprachlicher Klarheit und – trotz des nur 120 Seiten kurzen Textes – von epischer Wucht. Sehr langsam, furchtsam, erschüttert, immer wieder unterbrochen von Litaneien und Fürbittegebeten, nähern sich die Zeugen in ihren Aussagen, Vermutungen und Spekulationen dem Geschehen auf dem abseits gelegenen Einödhof, wo die ganze Familie samt Magd und Kindern erschlagen wurde. Selten wurde in einem Kriminalroman das Skandalon Tod so ruhig, entschieden und erschütternd eingekreist.
Und der Regionalkrimi? Für Tannöd wäre das Etikett eine Beleidigung.
Andrea Maria Schenkel: Tannöd
Edition Nautilus, 2006, 125 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung als Buchtipp des Monats bei ARTE am 9.3.2006; Tannöd stand von Februar bis Mai 2006 auf der KrimiWelt-Bestenliste, was nicht unerheblich zum Erfolg des Buches beitrug