Michael Dibdin hat mit SIZILIANISCHES FINALE eine Hommage an Leonardo Sciascia verfasst
Wer kürzlich den seit langer Zeit wieder einmal ausgestrahlten Film Ein einfacher Fall mit dem wunderbaren Gian Maria Volonté sehen konnte (er spielt darin einen alten Gymnasialprofessor und sieht aus wie der leibhaftige Thomas Mann der fünfziger Jahre), erinnert sich an die Szene, in der ein Zug der sizilianischen Provinzbahn stundenlang durch ein rotes Signal gestoppt wird. Schließlich gelingt es dem Zugführer, auf der Landstraße einen Pharmavertreter anzuhalten und mit der Bitte ins nächste Dorf zu schicken, er möge den schlafenden Stationsvorsteher wecken, damit er das Signal auf Grün stellen könne. Dass der hilfreiche Automobilist am Bahnhof auf zwei Mörder und damit auf die einzige wirklich aktive Kraft der Insel stößt, ist eine der finsteren Einsichten dieses Films. Er basiert auf einem der letzten Romane des sizilianischen Autors Leonardo Sciascia, der als Politiker wie als Schriftsteller gegen die Mafia zu Felde zog.
Der sizilianische Zug
Genau zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Sciascias Ein einfacher Fall brachte der englische Autor Michael Dibdin 1999 Blood Rain heraus, das jetzt unter dem Titel Sizilianisches Finale auf Deutsch erschienen ist. Unschwer lässt sich die Eingangsszene als Hommage an Sciascia und Metapher für den erreichten Modernisierungsstand Siziliens erkennen. Wieder steht ein Zug still. Aus einem abgestellten Güterwaggon dringt bestialischer Gestank. Die herbeigerufenen Ordnungskräfte entdecken in dem verriegelten Wagen, der eine verworrene Irrfahrt zwischen den beiden Mafiazentren Palermo und Catania hinter sich hat, eine verwesende Leiche. Doch erst, als man die Kritzeleien auf dem Transportbegleitschein entziffert hat, wird klar, dass der unidentifizierbare Tote kein Tramp war, dem die Tür des Waggons zugefallen war. Nicht „limoni“ – Zitronen – waren durch halb Sizilien transportiert worden, sondern ein Mitglied der Mafiafamilie Limina, vermutlich der älteste Sohn und Erbe, der schon seit einiger Zeit aus Catania verschwunden war.
Aurelio Zen als Katalysator
Dorthin, mitten in einen Bandenkrieg, in dem schon bald einige andere Gangster tiefgefroren enden werden, hat es auch Vize-Questore Aurelio Zen verschlagen. Nach einer wilden, von Dibdin in bisher sechs meisterhaften Romanen geschilderten Karriere, die ihn an verschiedene Einsatz-Orte in Italien brachte, hofft er, seine letzten Dienstjahre in der Nähe seiner Adoptivtochter Carla verbringen zu können. Als eifriger Jungpolizist hatte er noch geglaubt, seine Aufgabe bestünde in der Aufdeckung von Verbrechen. Doch längst hat er erkannt, dass das Ziel der Polizeiarbeit einzig darin besteht, durch Vortäuschung von Aktivitäten ihre Existenzberechtigung glaubhaft zu machen. Zens Vorruhestandsjob in Catania ist typisch für eine Justiz, die sich einreden will, mit der Inhaftierung etlicher Bosse sei die Mafia bereits erledigt. Statt die Nachwuchsgeneration der Camorra und die geheimnisumwitterte Dritte Ebene hinter den Hintermännern aufzuspüren, soll Zen dem römischen Innenministerium als Spion im Krieg der verschiedenen Polizeibehörden gegeneinander dienen.
Mit Aurelio Zen hat Michael Dibdin eine der literarisch fruchtbarsten Serienfiguren der neueren Kriminalliteratur geschaffen. Zen ist kein klassischer Ermittler. Er ist keine Identifikations-, sondern eine Spielfigur, die Dibdin, der viele Jahre an der Universität Perugia unterrichtet hat, als Katalysator immer wieder neuen Konstellationen von Verbrechen aussetzt. In diesem, dem nach Abschluss klingenden Titel zum Trotz, keineswegs letzten Roman wird Zen von den Geschehnissen existenziell betroffen wie nie zuvor. Hatte er sich in den früheren Romanen mit Nonchalance und Raffinesse, elegant und wendig wie ein Hai in den trüben Gewässern zwischen Politik, Geschäft und Verbrechen bewegt, wird Zen diesmal zum Spielball, Opfer und schließlich hilflosen Rächer. Seine Tochter und eine befreundete Richterin sind einer Verschwörung, die bis in höchste Kreise, in jene ominöse Dritte Ebene reicht, auf die Spur gekommen. Nicht nur diese beiden Frauen, auch Zens verehrte und verhasste Mutter in Rom, werden umgebracht. Wie der rote Sand aus der Sahara, der „blutiger Regen“ genannt wird, bricht die Gewalt über ihn herein. Ganz und gar kein einfacher Fall, ein scharfer, brillant geschriebener Blick auf das Italien von heute. Zwei angloamerikanische Autoren prägen unser (Krimi-) Bild von Italien: Donna Leon das sanft-touristische, Michael Dibdin das schwarz-groteske.
Michael Dibdin: Sizilianisches Finale.
Aus dem Englischen von Ellen Schlootz
Goldmann, 2001, 310 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die ZEIT Nr. 05/02; Dibdins Romane spielen jeder in einer anderen Region Italiens