Denise Mina: Götter und Tiere – das Mittelstück des Quintetts mit Detective Alex Morrow endlich auf Deutsch
Aristoteles ging davon aus, dass es zwei Arten von Lebewesen gibt, „die nicht in Gemeinschaft leben oder ihrer bedürfen“: Götter und Tiere. Aber die Menschen seien auf Gemeinschaft angewiesen. Gods and Beasts heißt der 2012 erschienene Kriminalroman der Schottin Denise Mina, der jetzt endlich auf Deutsch vorliegt.
Was menschlicher Gemeinschaft im Wege steht, sie durcheinanderbringt, gefährdet, ist das Thema von Kriminalliteratur; Ermittlerei, Polizeiarbeit, Täterjagd sind nur peripher. (Der Unterschied zur „anderen Literatur“: Das Lob des Positiven findet man im Kriminalroman eher selten.)
Götter und Tiere beginnt chaotisch: Nach dem Raubüberfall auf eine Postfiliale in Glasgow hockt ein junger Mann blutüberströmt auf dem Pflaster, ein kleiner Junge klammert sich an ihn. Als der Räuber im Schalterraum alle zwang, sich auf den Boden zu werfen, hatte ein alter Mann seinen Enkel dem jungen Mann zugeschoben, als solle er auf ihn aufpassen, war aufgestanden, hatte mit dem Räuber geredet und liegt jetzt erschossen vor der Filiale.
Es folgen weitere Szenen und Handlungsstränge, deren Sinn sich nicht auf Anhieb erschließt. Ein alternder Labour-Politiker wird von seiner Frau verdroschen; die im Romanzentrum stehende Ermittlerin, Detective Sergeant Alex Morrow, sucht nach einem Taufpaten für ihre Zwillinge und scheitert an ihrem Bruder, der einer der Gangsterbosse Glasgows ist. Ein reicher Erbe will seinen Reichtum sinnvoll loswerden, Polizisten werden Hunderttausende Pfund vor die Füße gelegt, Taxifahrer von kriminellen Unternehmen erpresst. Überall prägend: der Mangel an Gemeinschaft. Materielle und seelische Nötigung, Verachtung und Missgunst, Gier und Neid werden in Figuren aus allen Milieus anschaulich. In Anlehnung an das erste Kriminalpanoptikum einer Metropole, Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris (1843), könnte man sagen: Denise Mina, Jahrgang 1966, hat mit dem jetzt vollendeten Quintett um ihre Detective Alex Morrow zeitgenössische „Geheimnisse von Glasgow“ geschrieben.
Und wie! Nur ein Detail: Der junge Mann, von dem am Anfang die Rede war, hat seine Lebensunsicherheit in zahllosen Tattoos auszudrücken versucht. An seinem Hals ist vom Aristoteles-Zitat nur das letzte Wort „Beasts“ zu erkennen. Eine straßenkundige Krankenschwester klärt ihn auf: „Aber Schnucki, so nennt man hier die Pädophilen.“ Lebensprall, philosophisch, realistisch: Gönnen Sie sich den weiblichen Balzac unter den Krimiautoren, gönnen Sie sich Denise Mina.
Denise Mina: Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig
Ariadne im Argumentverlag, 352 Seiten
Dieser Artikel ist in der ZEIT Nr. 46 vom 4.11.20 erschienen und steht als Nr. 1 auf der Krimibestenliste November 20