Max Annas verfolgt ein großes Projekt: Das Ende der DDR in vier Kriminalromanen – Band 2 steigert die Spannung
Drei Mal habe ich über Max Annas‚ MORDUNTERSUCHUNGSKOMISSION – DER FALL MELCHIOR NIKOLEIT geschrieben, hier zunächst mein Beitrag im Newsletter der Krimibestenliste August, auf der der Roman neu auf Platz 6 eingesteigen ist:
Nach dem bravourösen Aufschlag mit Morduntersuchungskomission (…) konnte man sich schon fragen, ob Max Annas der miefigen DDR in ihrem letzten Jahrzehnt noch weiter literarische Funken entlocken könnte.
Mit dem Fall Melchior Nikoleit scheint mir diese Frage beantwortet. Annas nimmt seinen Protagonisten Otto Castorp aus der literarisch gefährlichen Pole Position des einsam widerständigen Cops zurück in den Routinealltag der Ermittlungsarbeit und macht ihn damit nur noch stärker zum Seismographen der einen Hälfte der Welt, die erzählt wird: der des failed state DDR. Dieser Welt steht die des aufkeimenden Jugendprotests gegenüber, aber durchaus nicht in heroischer Gestalt. Es sind vier „Punker“, die, schon bevor einer von ihnen, der Bassist Melchior Nikoleit, erschlagen im Schuppen seines Vaters liegt, den „Organen“ ein Dorn im Auge waren. Es ist die Außenseiterin unter den Außenseitern, zudem das einzige Mädchen, die Pfarrerstochter Julia Frühauf (!), die ihren naiven Sehnsüchten ihre Stimme leiht.
Woran ist die DDR zugrunde gegangen? Die Versprechen des Anfangs waren von Beginn an zu groß und zu großartig, kollidierten immer stärker mit den ökonomischen, sozialen und menschlichen Gegebenheiten. Das Ergebnis war ein Staat, der seine Officials wie seine Bürger in die immer engeren Schraubzwingen eines komplexen Systems von Lügen quetschte, bis das nicht mehr auszuhalten war.
1985 – Gorbatschow ist frisch an der Macht – ist ein Jahr, in dem diffuse Erneuerungshoffnungen noch keimen können, aber der Staats-Gärtner ist noch kräftig genug, die Pflänzchen herauszureißen.
Aber das, was noch im letzten Roman Morduntersuchungskommission versprochen wurde, alle Morde aufzuklären, kann er schon nicht mehr.
Die einstige Parole „Vom Ich zum Wir“ ist in ihr krasses Gegenteil verkehrt: die Ichs kennen kein Wir mehr, und dort, wo eines sich zeigt, ist die Stasi am nächsten.
Das alles dröselt Annas mit großem Gespür für Details in viele Stimmen auf, führt einzelne Verdächtige vor, zum Schluss müssen sich die Leser selbst ein Bild machen. Erschossen wird der Falsche aus falschen Gründen. Und man trauert um die jungen Leute, deren Hoffnungen erstickt wurden.
Ich bin mir sicher: Max Annas‘Morduntersuchungskommission ist das historisch wie literarisch interessanteste Projekt zur Zeit. Kein Kostümschinken wie Babylon Berlin, kein Ossi-Bashing, sondern klarer Kurs auf unangenehme und verzwickte Wahrheiten. Ich warte auf die Bände 3 und 4.
In der ZEIT vom 13. August 20 ist dieser Beitrag erschienen:
Genosse Rolf und die Punks aus Jena
Literarisch spannend: Max Annas schreibt weiter über die späte DDR.
Sie nannten sich Schleim-Keim, Namenlos und Zwitschermaschine. Punks in der DDR wurden erst massiv unterdrückt, später geduldet, als „asozial“ beargwöhnt und bespitzelt. Julia, Melchior, Sohle und Biber, die „Punker“ in Max Annas’ zweitem Band seiner Serie Morduntersuchungskommission über die letzten Jahre der DDR, können kaum drei Takte zusammen spielen, aber eins steht für sie felsenfest: „Punk ist Verzweiflung. Weil es keine Zukunft gibt. Weil wir in der DDR leben müssen.“ Nach der Schule oder der Arbeit ziehen sie die anständigen Sachen aus, trinken Bier und stöbern in leer stehenden Häusern. Jena 1985. Die Kommission, der sie vorspielen müssen, um als Band auftreten zu dürfen, befindet, ihnen fehle „komplett ein erkennbares Konzept“.
Für stramme Genossen wie Rolf sind sie „Gammler“ und „Schmutzfinken“. Trotzdem muss die Morduntersuchungskommission des Bezirks Gera ermitteln, als Bassist Melchior Nikoleit tot im Schuppen seines Vaters aufgefunden wird. Wie schon im ersten Band, in dem es um den Mord an einem Vertragsarbeiter aus Mosambik ging, zeichnet Annas eine Polizei, eingeklemmt in Ideologie, und eine Gesellschaft, in der die öffentlich propagierten Werte privat selbstverständlich unterlaufen werden. Melchiors Vater vertickt unter wohlwollender Beobachtung der „Organe“ Antiquitäten gegen Westdevisen. Das Foto, das einen NVA-Major als Kriegsverbrecher entlarven könnte, war der Band in die Finger geraten. Ein mögliches Motiv zwar, aber gegen verdiente Genossen darf nur sehr behutsam ermittelt werden. Noch mehr Motive, noch mehr Verdächtige, doch überführt werden kann keiner. Wer es war, müssen die Leser sich zusammenreimen.
Desaster im Großen wie im Kleinen: Oberleutnant Otto Castorp, der im ersten Band zur Selbstjustiz gegen Nazis griff, denen die Staatsmacht nichts anhaben wollte, schlägt sich jetzt mit Ehe- und Alkoholproblemen herum. Augen zu und durch scheint seine Devise: „Eine Morduntersuchung war schließlich nichts, was in irgendeiner Form mit Politik zu tun hatte.“
Doch Annas’ Romankonstruktion widerspricht: So ergebnislos, wie die Ermittlungen in verschiedene Richtungen verläppern, so vielfältig und widersprüchlich sind die von ihm arrangierten Erzählperspektiven. In einem Land der Lüge kann auch die einzelne Stimme nur begrenzt wahrhaftig sein. Alles ist politisch, aber nichts öffentlich. Als Genosse Rolf final den Falschen erschießt, bricht Castorp zusammen. Max Annas’ Serie MORDUNTERSUCHUNGSKOMMISSION ist eines der spannendsten literarischen Projekte der letzten Jahre.
Und im Deutschlandfunk Kultur ist am 7.8.20 zuvor dies erschienen: Lärm und Gewalt
Max Annas: Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten