DIE KRIMIBESTENLISTE IM NOVEMBER: 3 Neue aus drei Ländern. USA, Großbritannien, Deutschland.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Dieser Newsletter steht ganz im Zeichen des Jupiter. 4 Wochen lang habe ich den Planeten nicht von zu Hause in Hamburg, sondern vom Peleponnes aus leuchten gesehen. Seit Gründung der Krimibestenliste im März 2005 habe ich erstmals nicht nur einen langen Urlaub gemacht, sondern die Kommentierung der drei neuen Titel meinen daheim gebliebenen Mitstreitern aus der Jury unter Leitung unseres verantwortlichen Redakteurs Kolja Mensing im Deutschlandfunk Kultur überlassen. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Ermöglichung eines erholsamen Urlaubs und die Erstellung einer bravourösen Novemberliste!
Michael Mann, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent des Kultfilms HEAT, 79 Jahre alt, und Meg Gardiner, Autorin von bisher 15 Kriminalromanen, haben gemeinschaftlich mit HEAT 2 ein sehr filmisches Sequel zu HEAT verfasst, das zugleich ein Prequel und Sequel der Filmhandlung ist. Fritz Göttler, Mitglied unserer Jury: [Mann]„liebt die Knotenpunkte, in denen die Beziehungen sich verknüpfen, heimliche Zusammenkünfte oder brutale Clashs, und jedes Aufeinandertreffen hat eine Magie der Notwendigkeit, die nichts zu tun hat mit Zufall oder Schicksal.“
Ob sich diese Magie für die Verknüpfung der Schicksale von Chris Shiherlis, dem einzigen Überlebenden von Neil McCauleys Bande mit dem des fanatischen Polizisten Vincent Hanna in Gestalt eines sadistischen Serienschänders in HEAT 2 einstellt, mögen die Leser selbst beurteilen. Dass Chris‘ Wechsel aus LA nach Ciudad del Este in Paraguay, in das „Disneyland des Verbrechens“ (Göttler) zwingend ist, ergibt sich nicht nur aus seiner Flucht in eine neue Welt, sondern auch in ein neues Zeitalter, in dem die großen Verbrechen nicht mehr mit ausgeklügelten Raubzügen von Millionen Talern und von Tonnen Papiergeld gemacht werden, sondern mit dem Diebstahl der Software von Kriegswaffen.
Mir hat jedenfalls die Lektüre von HEAT 2 unter dem griechischen Sternenhimmel die Dunkelheit des Herbstes verkürzt. Wer bereit ist, für ein gutes Interview Marcus Münteferings mit Michael Mann hinter die Bezahlschranke des Spiegel zu klettern, kann dies hier tun.
In Anspielung an John Le Carrés „Moskauer Regeln“ der Geheimdienstarbeit, die im Misstrauen gegen jedermann und besonders die vermeintlich „eigenen“ Leute bestehen, hat Mick Herron seinen fünften Roman um die Slow Horses LONDON RULES genannt. Ich habe ihn noch nicht gelesen (Jupiter !), bin aber gespannt, was die lahmen Gäule wieder anstellen werden, um ihren Status als die effektivsten unfähigen Geheimdienstler zu wahren. Ich habe gehört, es gehe um einen Anschlag auf eine Pinguinkolonie…
Leider immer noch unterschätzt: Matthias Wittekindt. Seine Kriminalromane sind so weit ab vom Tatort-Schuss, so exquisit nicht-telegen, so literarisch, dass er wohl nie das Massenpublikum erreichen wird. Aber die auf Kunstliteratur und ihre Identitätskrisen spezialisierte Feuilletonkritik, die sich hochnäsig so was von kompetent in Stilfragen hält, scheint diesen Oberstilisten, der selbst in einer Reihe wie den Romanen um Kriminaldirektor a.D. Manz für jedes Buch einen eigenen Erzählweg findet, einfach nicht wahrnehmen zu wollen. Deren Pech.
Man kann DIE ROTE JAWA passend zur Jahreszeit als Weihnachtsgeschichte lesen. Großfamilie Manz trifft sich zu Weihnachts- und Festvorbereitungen; schon bald sondern sich Großvater Manz und Enkel Matti von den anderen ab, um wichtige Angelegenheiten zu besprechen, zum Beispiel den Grund von Streitigkeiten zwischen Familienmitgliedern. Mitten in seinen diplomatischen Erklärungsversuchen erinnert sich Manz an eine Situation, als er 16 und sich seiner überhaupt nicht sicher war, was er machen sollte. So kam er durch Vermittlung seines sehr speziellen Onkels Jochen, der im Westen Berlins wohnte, als „Feuerwehrhilfsarbeiter“ in der Nähe von Waren an der Müritz unter, entdeckt die erste Liebe und seine spätere Leidenschaft für das Sammeln und Bewerten von Informationen. Ein veritabler Kriminalfall, Tod durch Brandstiftung, eine Sommeridylle, eingebettet in die große Politik, Sommer 1961. Ein Buch, zu leise für einen Skandal, zu groß, um nicht zumindest durch die Jury der Krimibestenliste beachtet zu werden. Zumal Wittekindt ein Goodie liefert: den vereinfachten Stammbaum der Manzens samt Jahreszeitenkalender ihrer Geschichten.
Die Krimibestenliste November ist seit Freitag, dem 4. Oktober, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur über DIE ABFINDUNG als Nummer Eins der Novemberliste gesprochen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und sehr oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Herbsttage!
Ihr Tobias Gohlis