Robert Hültners vierter Kajetan: fast schon am Ende
Manchmal muss einer erst hinter Gitter kommen, um die Welt zu verstehen. So geht es Paul Kajetan, Ex-Inspektor, Ex-Polizist, Ex-Angestellter einer Filmkopieranstalt. In Inspektor Kajetan und die Betrüger ist er ist auf dem Tiefpunkt. Unschuldig arretiert sitzt er mit einem Landstreicher in der Zelle und beginnt gerade zu begreifen, dass die Polizei nach einer anderen Musik spielt als zu seiner besten Zeit. „Und du weißt, was ein richtiger Gendarm ist?“ amüsiert sich sein justizerfahrener Kumpel. „Jetzt weiß ich grad noch, wer keiner ist. Wie ich überhaupt langsam draufkomm, dass alles ist, wies ist, und nicht, wie es sein sollte.“ „Ah naa. Ein Philosoph ist er auch noch.“ Nun, der Philosoph hat gerade kassiert, was einem Häftling 1924 im vornationalsozialistischen München von Staats wegen zukommt: eine Tracht Prügel von der Obrigkeit.
Wie es ist, und nicht, wie es sein sollte – das ist nicht nur die späte Einsicht eines unehrenhaft entlassenen Beamten, der sich einst zu Edlerem berufen glaubte und nun demütig erkennen muss, dass die Wirklichkeit über ihn hinwegrollt. Das ist auch das an unauffälliger Stelle versteckte ästhetische Konzept des Robert Hültner, der mit den nunmehr vier Romanen um Paul Kajetan nicht nur immer wieder das Entzücken seiner besonders nördlich der Mainlinie noch viel zu kleinen Leserschar geweckt hat. Als Hültner 1993 mit Walching eine verzwickte Dorfgeschichte um Waffenschmuggel, die Umtriebe völkischer Heimwehren und die elende Enge eines Kaffs am Voralpenrand vorlegte, konnte man noch vermuten, es handle sich um einen ins Krimigenre verlegten Spätkömmling der kritischen Heimatliteratur, die seit den siebziger Jahren den Alpenraum durchtost.
Mit naturalistischer Schärfe hatte Hültner die Erzählungen aus den turbulenten Zeiten der Münchner Räterepublik, die ihm von letzten Augenzeugen in den Kneipen und Wohnstuben seiner oberbayrischen Heimat anvertraut worden waren, zu einem Panorama düsterer Repression verdichtet. Der ins fiktive Dornstein strafversetzte Polizeiinspektor Kajetan wird zu abschließenden Ermittlungen in einem bereits als gelöst geltenden Fall ins Bergdorf Walching geschickt. Ein junges Mädchen wurde erwürgt aufgefunden, drei bettelnde Hungerleider sind bereits festgenommen und beinahe vom Mob gelyncht worden. Es ist Winter 1922, Kajetan ermittelt, wie er’s gelernt hat. Zwar brüllt er die verdächtigten „Klöpflgänger“ nach allen Regeln autoritärer Einschüchterungstechnik zusammen, aber foltern lässt er sie nicht. Durch widersprüchliche Zeugenaussagen und Indizien skeptisch geworden, deckt er schließlich eine mörderische Vertuschungsverschwörung auf, in der er selber den Trottel geben sollte.
Denn: Was ist überhaupt ein Verbrechen in einer Zeit, in der das Überleben jedes einzelnen die Übertretung der Gesetze erzwingt? Was ist Gerechtigkeit, wenn jeder, sei er kleiner Vermieter oder großer Waffenschieber, sei er Politiker oder Volksschriftsteller, sich nur mit Täuschung und Betrug durchschlagen kann? Robert Hültners Kajetan-Romane sind von tiefer Skepsis in die Vernunft geprägt. In Inspektor Kajetan und die Betrüger kann Kajetan in der Schwindelwelt von Welterlösern, Zivilisationsheiligen, braunen und roten Revoluzzern nur dann überleben, wenn er sich als Betrüger mit Betrügern gemein macht. Ausgerechnet von dem Hochstapler, den er seit Tagen verfolgt, muss sich Kajetan aus dem tödlichen Mahlwerk einer Steinmühle retten lassen, in das ihn ein korrupter Polizist „auf höheren Befehl“ gestoßen hat. Erst jetzt dämmert ihm, wie’s wirklich ist. Er greift sich die Papiere eines Toten und stiehlt sich aus der Geschichte. Dem Detektiv bleibt die Aufklärung der Morde, die er miterlebt hat, verborgen. „Ein Art von Verbrechen war aufgekommen, eine, die ihm fremd war, mit der er nicht umgehen konnte.“ Nur noch der Autor, der diese Geschichte aus den Vorzeiten des Hitlertums genauestens, beinahe filmisch bis in die Zwischentöne der bayrischen Dialektwendungen hinein vergegenwärtigt, ist Zeuge.
Robert Hültner:
Inspektor Kajetan und die Betrüger
btb, 288 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 29 vom 8.7.2004