Nathan Larson schreibt den Post-Nine-Eleven-Krimi
Zu diesem Buch gibt es eine Geschichte, und die geht so: Zehn Jahre nach dem elften September treffen sich in einer Bar in der Lower Eastside zwei Typen. Der eine ist blond und Redakteur beim New York Magazine, der andere dunkel und Musiker.
„Zehn Jahre ist das her, und alles wächst wieder zu.“
„Ground Zero, da wächst die nächste Immobilienblase.“
„Kein Schwein erinnert sich noch. Man müsste..“
„… alles platt machen.“
Sie trinken und schwadronieren ein bisschen. Die Sonne geht unter.
„So was wie Blade Runner müsste her.“
Sie verabreden, jeder wird etwas schreiben: NYC nach der Katastrophe, ein Mann, ein Detektiv, ein Killer..
Tatsächlich haben beide einen Roman geschrieben. Jetzt sind sie kurz nacheinander auch auf Deutsch erschienen.
SPADEMAN von Adam Sternbergh.
2/14 – DEWEY DECIMALvon Nathan Larson.
An dem Abend in Manhattan haben die beiden keinen Wettkampf verabredet. Dazu war die Sache zu ernst. Mit Debüts spaßt man nicht, und nicht mit der Katastrophe.
SPADEMAN ist ein braves Buch geworden. Es ist die Geschichte eines Müllmanns, der Killer wird. Und Prinzipien hat. Zum Beispiel tötet er keine Kinder, und deshalb auch keine Schwangeren. Das ist edel und gut, und noch braver wird er, als sich Spademan gegen die wahren Bösen wendet. Ein Traktat über das Guter-mensch-werden nach der Katastrophe. Dazu sind Katastrophen ja da. Im puritanischen Kosmos jedenfalls.
Dewey Decimal muss nichts werden, auch nicht besser. Er ist einfach nur da. Der Spademan gehorcht Prinzipien, Dewey Decimal hält sich an Regeln und folgt Impulsen. Regeln, die so klar sind wie das Bibliotheks-Ordnungssystem, nach dem er sich nennt. Alle Medien, die es gibt, kann man man damit sortieren, Massen von Information. Seinen Namen hat Dewey Decimal vergessen, und ob das, an das er sich erinnert, seine Vergangenheit, ein Video-Clip oder ein Implantat ist, kann er nicht beurteilen. Sein System gibt ihm Orientierung, mehr nicht. Es nimmt ihm Entscheidungen ab. Erfolgt ihm wie Ameisen den Pheromonen anderer Ameisen.
„Wenn man mit der New Yorker U-Bahn fährt, muss man unbedingt zuerst eine der Buchstaben-Linien (A, B, C) nehmen und das in streng alphabetischer Ordnung. Fährt man mehr als vier Stationen, muss man in eine Linie mit einer Ziffer umsteigen (1, 2, 3) und in der besten aller Welten sollte die erste eine gerade Ziffer sein.“
Es ist der Hochsommer nach den Ereignissen vom 14. Februar. Manhattan ist platt. Dewey Decimal sorgt für sich, mit Desinfektionsmitteln – „Purell® ist für mich Pflicht“ – mit Pillen und mit seinem System. Im Zweifelsfall schießt er. Auch auf einen Mongo, selbst wenn es ihm hinterher leid tut. Soviel zu Prinzipien.
Jerome Charyn bewundert Dashiell Hammett: „Er hat der Literatur einen neuen Raum gegeben.“ Was würde er zu Nathan Larson sagen? Vielleicht: „Er hat der Literatur eine neue Fläche geöffnet.“
Die Finanzkrisen, die zweiten und dritten Anschläge vom 14. Februar, die Epidemien haben mehr als nur die Hauptstadt der Welt ausgelöscht. Es gibt keine Zeit mehr, Zukunft und Vergangenheit sind in unübersichtlicher Gegenwart verschwommen, Dewey macht keine Pläne, sondern folgt einem Reiz-Reaktionsschema. „Vor 11 Uhr vormittags biege ich nur links ab.„
Erhalten ist Manhattans Avantgardefunktion : Dewey kommt es so vor, als lebten die Vereinigten Staaten außerhalb New Yorks beinahe unbehelligt so weiter wie vor 2/14. Aber er weiß es nicht.
Larsons 2/14 ist ein Roman, dessen subtile Qualitäten sich erst nach und nach erschließen.
Die Figur Dewey ist mit großer Präzision unscharf gehalten. Er hat keine Geschichte, sondern verschwommene Erinnerungen. Er verfügt über eher entlegene Sprachen, zum Beispiel Ukrainisch, weiß aber nicht, ob und wie er sie gelernt hat. Seine Moral/Weltanschauung setzt sich aus Fetzen antirassistischer und liberaler Phrasen zusammen, ist inkonsistent. Dewey könnte man als Detektiv interpretieren, als desertierten oder marodierenden Soldaten, als gescheiterten Vater und Ehemann, aber vielleicht ist er auch nur eine unvollständige Information, die auf fragmentiertem Code basiert.
Dass er, der über sich selbst nichts weiß, uns irgendwie vertraut und auch nicht völlig fremd ist, liegt daran, dass er zu einem Teil aus Detektiv-Abenteuer-Überlebens-Geschichten zusammengesetzt ist. Er bewegt sich in einer zerstörten Welt nach Mustern, die uns und ihm vertraut vorkommen. Das Erstaunliche – und zwar das für ihn Erstaunliche – ist, dass diese Muster zu funktionieren scheinen. Er kommt uns vertraut vor, weil wir – bei Lichte besehen – nicht anders entscheiden als er: ahnungslos, nach neurotischen Mustern und spinnerten Reflexen, ziellos, mit eingebildeter Konsequenz. In einer flachen, unstruktierten Welt ohne Horizont, die ein Bühnenbild sein kann, das Experimentierfeld eines durchgeknallten Staatsanwalts oder Realität.
Thomas Wörtche, der Larson entdeckt und in seiner Reihe Penser Pulp veröffentlicht hat, bemerkt in seinem bedenkenswerten Nachwort (das man unbedingt nach dem Roman lesen sollte): „2/14 zitiert, ohne Zitat zu sein.“ Könnte auch auf uns zutreffen.
Na, ich sag’s mal, gerade mit Seitenblick auf die neuerliche herablassende Rede über angeblich „niedrig hängenden Latten der Kriminalliteratur„: 2/14 ahnt was von uns, was wir selbst noch nicht wissen. Spitzen Latte fein gestraddelt.
Ich warte deshalb auf Band 2, der in den USA gerade erschienen ist und im Herbst auf Deutsch herauskommen wird. Das ist Spannung. Was wird Dewey tun?
Hier sind ein paar Links zu anderen lobenden kritischen Stimmen:
Marcus Münterfering auf Spiegel online
Alf Mayer bei Getidan
Anne Kuhlmeyer bei Wort und Tat
Nathan Larson: 2/14. Ein Dewey-Decimal-Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf
Penser Pulp bei Diaphanes, 256 Seiten
Und hier noch der Link zu meiner Rezension in der ZEIT vom 7. August 2014