Die Krimibestenliste im Januar: vier Neue aus vier Ländern, darunter drei von Frauen
Im neuen Jahr wird eine uralte Frage mit einem Umkehr-Trick neu gestellt. Die Irin Liz Nugent hat „Wer war’s?“ umgedreht: „Wer könnte das Opfer sein?“ fragen sich ihre Leserinnen. Sympathien und Antipathien kommen bei der Lektüre von KLEINE GRAUSAMKEITEN zwangsläufig ins Spiel, wenn sich die drei Brüder Will, Brian und Luke über ihr Schicksal und die Intrigen in einer dysfunktionalen Familie auslassen. Einer von ihnen wird tot sein, dass wissen wir von der ersten Zeile an.
Über 606 von der Australierin Candice Fox ist nicht viel zusagen, jede reflexive Äußerung könnte das Tempo abbremsen, mit dem man die Seiten dieses in Nevada spielenden Gefängnisausbruch-Thrillers umschlägt.
Nur der Kritik eines Kollegen ist entschieden zu widersprechen, der 606 als unpolitischen, puren Thrill gelesen hat. Wer in Fox‘ krasser Karikatur von Bösen Verbrechern und Guten Polizistenfrauen nicht das Wahnsystem des US-Knastsystems als Karikatur wiedererkennt, ist etwas zu sanft gebildet.
Richtig krass wird es in Robert Bracks BLIZZARD. Tollkühn geworden durch den Erfolg seines Thrillers DAMMBRUCH, der während und in der Sturmflut von 1962 spielt, hat Brack mit seiner in der Schneekatastrophe Winter 1978/79 spielenden Groteske noch eins draufgesetzt. Aus einem für sich schon ziemlich romantischen Einbruch in ein Juweliergeschäft (die Klunker will die Braut dem Bräutigam zur Entlassung aus dem Knast schenken) wird eine chaotische Flucht in den Schneesturm, die unter den Schneemassen sowie unter der deutschen Vergangenheit und Gegenwart zusammenbricht. Ein durchgedrehter Bundeswehr-Panzer spielt dabei im Showdown mit.
„No Humans Involved“ – abgekürzt N.H.I – wurde routinemäßig in den Rapports des LAPD als Formel verwendet, um Todesfälle von obdachlosen Schwarzen abzukürzen. Erstmals akademisch kritisiert wurde diese rassistische Floskel, nachdem 1991 Rodney King in den Straßen von Los Angeles erschlagen wurde. Die jamaikanisch-amerikanische Autorin und Wissenschaftlerin Sylvia Winter nahm die Formel N.H.I 1992 in einem „Offenen Brief an meine Kollegen“ in der Stanford-University grundsätzlich als Diskriminierungskürzel für alle Minderheiten aufs Korn, die nicht der weißen, heterosexuellen Mittelschicht angehören.
Kurz nacheinander tauchte N.H.I jetzt in zwei feministischen Kriminalromanen auf, zuerst in Ivy Pochodas DIESE FRAUEN (Krimibestenliste 10-21). Und Denise Mina hat N.H.I. sogar zum aktuellen Titel TOTSTÜCK (im Original 2020: „The Less Dead“) inspiriert. Wobei die in Los Angeles lebende Pochoda „N.H.I.“ der New Yorker Polizei zuschreibt als Code „für getötete Prostituierte, Drogenabhängige und Gangmitglieder“ und die in Glasgow lebende Mina sie durch den Mund der erfahrenen Prostituierten Nikki ebenfalls dem NYPD zuordnet zur Kennzeichnung von tot aufgefundenen Obdachlosen. Nikki dazu weiter: „Wenn unsereins umgebracht wird, nennen sie uns ‚Totstücke‘, als ob wir von vornherein nie wirklich lebendig gewesen wären.“ Lesen Sie selbst, wie es Denise Mina gelingt, in TOTSTÜCK die Prostituierten von Glasgow lebendig werden zu lassen.
Die Krimibestenliste Januar ist seit Freitag, dem 7. Januar, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag, diesmal unter den Top Fifteen des Jahres 21. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Und bereits am Freitag morgen hat Thomas Wörtche Liz Nugents KLEINE GRAUSAMKEITEN bei Deutschlandfunk Kultur als höchsten Neueinstieg besprochen.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis