Arne Dahls TIEFER SCHMERZ
Der Weg nach Skogskyrkogården führt vom königlich-touristischen Stockholm südwärts ins kleinbürgerlich-gewerbliche. Anfang Dezember schien eine flache Sonne, und eine flauschige Schneeschicht milderte die gewöhnliche Hässlichkeit der Fertigungsgebäude und Sozialsiedlungen, an denen die S-Bahn vorbei glitt. Skogskyrkogården ist einer der großen Parkfriedhöfe Europas und steht unter dem Schutz der Unesco.
Als ich den Schalterbeamten an der gleichnamigen S-Bahn-Station nach der jüdischen Begräbnisstätte fragte, zeigte er auf eine Wegkreuzung mitten im weitläufigen Parkgelände. Nach einer Viertelstunde Marsch durch knöcheltiefen Schnee kam mir der erste Mensch entgegen: ein vermummter Mann auf einem Schneepflug. Ich winkte und rief. Es war ziemlich kalt, und er konnte mir Auskunft geben. Doch als er auf hundert Meter an mich herangefahren war, bog er ab und verschwand zwischen den verschneiten Bäumen. Irgendwann gab ich meine Suche auf und verließ den Parkfriedhof. Schließlich entdeckte ich in der Nähe einer vierspurigen Schnellstraße, auf der der Feierabendverkehr rauschte, doch noch ein Hinweisschild „Judiska Begraving“ und fand nach weiteren zehn Minuten Schneestapfen den Jüdischen Friedhof halb hinter einer Ausstellung mit Sommerhäusern verborgen. Hier war es still. Von den hohen Bäumen fiel hin und wieder etwas Schnee auf die Gräber mit den hebräischen Schriftzeichen.
Erschüttert bis ins Mark
Ich versuchte mir die Szene vorzustellen, die ich vor kurzem gelesen hatte. Im Mai 2000 war an dieser Stelle ein sehr alter Mann kopfunter an einem Baum aufgehängt worden. Der Anblick erschütterte die herbeigerufenen Polizisten ins Mark. „Die grauen Haarsträhnen reichten fast bis zum Boden, unmittelbar neben einem Spazierstock und einem zerstörten Grabstein. Und in seinem Kopf stak in Höhe der Schläfe ein dünner, aber fester Metalldraht. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein eigentümliches Lächeln. Es war ein grausiger Anblick in dem scharfen Scheinwerferlicht. Wie die Schlussszene eines Schauspiels. Einer antiken Tragödie.“
In der kalten weißen Winterstille schauderte ich nicht, nicht so wie bei der Lektüre von Tiefer Schmerz.
Der Roman ist der vierte (von insgesamt zehn geplanten), den Arne Dahl über die Eliteeinheit der schwedischen Reichskriminalpolizei namens „A-Gruppe“ geschrieben hat. Er trägt im Original den weniger pathetischen Titel Europa Blues und stellt sich der Unausweichlichkeit von Schuld und Erinnerung. Der alte Mann mit dem Draht in der Schläfe hat den Schmerz erforscht, bevor er ihn erlebt hat. Seine neurophysiologischen Arbeiten haben ihn zu einem Kandidaten für den Nobelpreis gemacht. Doch vor der Auszeichnung haben ihn die Erynnien geholt.
Noch drei andere geheimnisvolle Fälle liegen der A-Gruppe vor, darunter der eines Mannes, der von den Vielfraßen, die im Freilichtmuseum Skansen leben, buchstäblich aufgefressen wurde. Paul Hjelm, der assoziations- und ideenreiche Kopf der A-Gruppe, verbindet die vier Tatorte durch Linien: ein Kreuz zeichnet sich ab über Stockholm. Seine Arme reichen über die forensischen Endpunkte hinaus tief nach Europa, geografisch nach Mailand, Athen und Odessa, historisch zurück in die Zeit des Rassen- und Züchtungswahns der Nazis.
Der Schock soll schmerzen
Gemeinsamer Fluchtpunkt ist Weimar, wo SS-Mediziner an KZ-Insassen die Grenzen der Schmerztoleranz „erforschten“. Die literarische Fiktion liegt nicht weit von der Wirklichkeit entfernt, und der Schock, den Arne Dahl inszeniert, soll schmerzen. Zwar sind, so sagt er, die Verwicklungen der neutralen Schweden in das Europa überspannende Machtsystem der Nazis historisch gut erschlossen und hinreichend bekannt. Aber die Wunde dieser Erinnerung will sich schließen. Dagegen mobilisiert Dahl nicht nur schauderhafte Bilder von Gewalt, sondern auch die ältesten Rachegöttinnen der europäischen Literatur. Wer seine Erynnien sind, und warum diese zeitgenössischen Rächerinnen nicht, wie bei Aischylos die Eumeniden, von ihrer Rache ablassen können – das finden die modernen Kreuzritter der „A-Gruppe“ nach und nach heraus. Tiefer Schmerz ist nach Misterioso, Böses Blut und Falsche Opfer (hierfür erhielt Dahl den Deutschen Krimipreis 2005) ein weiterer Gipfelpunkt europäischer Kriminalliteratur: nachdenklich, moralisch bohrend, komplex und anspielungsreich, ohne besserwisserisch zu sein, gewürzt mit einem feinen Humor.
Arne Dahl: Tiefer Schmerz
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Piper, 410 Seiten
Unredigiertes, durch Links ergänztes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT am 3. Februar 2005, KrimiZEIT-Bestenliste April bis Juni 2005