Sechs neue Titel: je einer aus Schweden, Frankreich, Sri Lanka, Deutschland, zwei aus den USA.
Die Schauplätze: Stockholm, Uppland, Bordeaux, Colombo, Jaffna, Los Angeles, USA-Südosten, Berlin, Douala.
Drei Debüts im deutschsprachigen Raum.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 24 Monaten.
Platz Eins im Februar:
Neu auf der Krimibestenliste:
1 Stummer Schrei (I cirkelns mitt)
STUMMER SCHREI ist Arne Dahls erster Kriminalroman in einer neuen Reihe mit dem NOVA-Team und dessen Chefin Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman. Wenn ich die Angaben des Verlags richtig gezählt habe, ist es der zweiundzwanzigste Roman Dahls in deutscher Sprache.
Mich erinnert die Konstellation eines kleinen, sehr ehrgeizigen, selbstbewussten und opferbereiten Polizisten-Teams an seine Anfänge mit MISTERIOSO (1999, deutsch 2003) und der Einheit für Spezialaufgaben „mit dem albernen Namen A-Gruppe“. Dahl war damals noch selbstironischer, im Laufe der Jahre haben die Publikumsanforderungen dem Autor den einen oder anderen Schlenker abgeschliffen. Aber nicht ganz: Eva Nymans um einen naturalisierten afghanischen Flüchtling inklusiv aufgestockte Truppe heißt NOVA, gehört zur NOA, was für Nationale Operative Abteilung steht. NOVA heißt auch das „dämliche IT-Supportsystem“ der schwedischen Polizei, witzelt einer von ihnen.
Vieles ist in STUMMER SCHREI (wieder) wie gehabt. Die in der Elite-Truppe kulminierende Intelligenz des Kollektivs, die intellektuelle Brisanz der Gegenwarts- als Gefahrenanalyse, das historische Bewußtsein von europäischer Gewaltkultur – Elemente, die Arne Dahl zu einem der reflektiertesten Krimiautoren Europas gemacht haben.
Anderes ist neu: Vor allem die Beschreibungen der schwedischen Natur, des Waldes, der zurückgezogenen Alternativsiedlungen darin. Dahl blättert eine ganz neue Seite auf: Schweden ist überwiegend Wildnis und Natur, nicht Stockholm. Weshalb im Nebenzentrum der Handlung eine Universität für Landwirtschaft und Naturschutz steht und die in ihr gelehrten Überlebenstechniken für Zivilisierte, die lernen, auch ohne ihre zerstörte Zivilisation am Leben zu bleiben.
Dahl hat ein wichtiges Thema am Wickel: die für Naturprozesse blind gewordene Gesellschaft. Exemplarisch für sie steht der Mann, der vermutlich mit Eva Nyman in weiteren Folgen der Reihe das NOVA-Team leiten wird. In STUMMER SCHREI kehrt er erst einmal nur aus den Wäldern zurück, ein vermutlicher Terrorist und ziemlich ausgebuffter Ignorant. Ach, lesen Sie selbst.
Am 2.Februar hat Kolja Mensing den Roman in Deutschlandfunk Kultur besprochen. Hier sein Text.
2 Durch die dunkelste Nacht (Traverser la nuit)
Hervé Le Corre (ausgesprochen wie „Kohr“ oder frz.: „corps“), geboren 1955 in Bordeaux, in Frankreich ein berühmter Krimiautor, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u.a. mit Le Point du Polar Européen 2014 und 2009 mit dem Grand Prix de la Littérature Policière, der Verfasser von 27 Büchern, Meister des Noir, bekennender Anhänger des Linken Jean-Luc Mélenchon, Gymnasiallehrer für Literatur – ist hierzulande vollständig unbekannt.
Das wird, das muss sich ändern.
Denn sein deutsches Debüt DURCH DIE DUNKELSTE NACHT ist überwältigend, niederschmetternd, wie ein dreifacher Schlag in den Nacken. Bordeaux, die Stadt der Aufklärung, des Handels und des Weines, hat man noch nie so finster, schlammig und verregnet erlebt wie in diesem Roman.
Drei Stimmen, drei Figuren stolpern durch die Nacht: Commandant Jourdan, dem die Industriegesellschaft vorkommt „wie ein Kartenhaus, auf das immer noch eins draufgesetzt wird (…) im Vertrauen auf die Stabilität. Er ist sich sicher, dass es einstürzen wird. (…) Barbarische Zeiten, denen man entgegen geht.“ Polizeiarbeit ist sinnlos, selbstmörderische Risiken geht er ein, und jagt doch mit dem Instinkt des erfahrenen Bullen einen Frauenkiller. Das ist die zweite Stimme: vergewaltigt von seiner Mutter, ein Typ, der in einer Frau nichts „anderes sieht als einen Spielautomaten: zwei Arme und ein Loch für die Kohle“.
Nur die dritte Stimme verspricht einen Hauch Hoffnung: Nach dem Selbstmord ihrer akademischen Eltern ist Louise in der Hölle von Alkohol und Drogen beinahe verloren gegangen, bis sie Mutter wurde. Lucas, ihr kleiner Sohn, ist ihre Hoffnung, aber sie ist gefangen in einer zerstörerischen Nichtbeziehung, regelmäßig verprügelt von ihrem Ex, der in ihr das Opfer gefunden hat, an dem er sein Versagen austoben kann. Erst als sie, im Versuch, dieses Scheusal loszuwerden, Jourdan kennenlernt, zeichnet sich für die beiden so etwas wie eine Möglichkeit von Zukunft ab. Aber Le Corre ist gnadenlos.
DURCH DIE DUNKELSTE NACHT ist eine Entdeckung, aber keine vergnügliche, sondern finstere, große Literatur, Poesie in den Schattierungen von Schwarz.
4 Die sieben Monde des Maali Almeida (The Seven Moons of Maali Almeida)
Dieser Roman, der 2022 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, hat wie Sri Lanka, das Land aus dem er kommt und von dem er handelt, eine lange und verworrene Geschichte. Der 1975 im Süden Sri Lankas geborene Shehan Karunatilaka veröffentlichte es zunächst 2020 als CHATS WITH THE DEAD in Indien, dann kam Covid 19, er schrieb es für ein internationales Publikum, das nicht so mit den politischen Interna seines Landes vertraut war, um. Bis es 2022 vom unabhängigen englischen Verlag Sort of Books unter seinem jetzigen Titel DIE SIEBEN MONDE DES MAALI ALMEIDA herausgebracht wurde.
Die lange Kriminal-, Liebes- und Politik-Geschichte im Kommentar zur Krimibestenliste kurz zusammengefasst:
„Der schwule Spieler und Kriegsfotograf Maali Almeida ist tot. Sieben Tage hat er in der Zwischenwelt der Geister, um Vorge-schichte und Ursache seines Todes aufzuklären. Zwischen Liebsten, Verwandten, Mördern, Politikern und Dämonen versucht er, im Bürgerkriegschaos seines Landes Sinn zu erkennen.“
Im Zentrum des Politthrillers stehen Fotos von Bürgerkriegsgräueln von 1983, die Maali versteckt hat. Sie belasten den aktuellen Verteidigungsminister und die von ihm befehligten Todesschwadronen. Hier finden Sie die auführliche Kritik von Claudia Kramatschek bei Deutschlandfunk Kultur.
5 Stunde um Stunde (Fire with Fire)
Die Australierin Candice Fox hat seit ihrer Zusammenarbeit mit der US-Amerikanischen Krimi-Schreibmaschinerie James Pattersons 2016 bis 2018, aus der drei Romane entstanden sind, Gefallen an kalifornischen Schauplätzen gefunden.
In STUNDE UM STUNDE rüttelt sie am Mythos LAPD.
Da die Suche nach ihrer verschwundenen, möglicherweise im Meer ertrunkenen oder vom Strand entführten Tochter schlampig geführt wurde, wollen ihre verzweifelten Eltern das LAPD erpressen. Sie besetzen das forensische Labor und drohen die dort konservierten Beweise zu vernichten, bis ihre Tochter oder ihr Leichnam gefunden ist.
Gag eins ist die Polizei selbst: Wie die Geier rottet sich die notorisch mit Beweismitteln schlampige Polizeitruppe gegen die Geiselnehmer zusammen, übertritt in ihrer Korps-Wut sämtliche Regeln, als wären ihr Beweismittel für ihre Bullenreputation superwichtig.
Gag zwei: Natürlich wird – höchst spannend – der Fall der Tochter nicht vom wutfauchenden LAPD, sondern von zwei Außenseitern gelöst. Eine davon ist Anwärterin Lamb, die am ersten Tag ihres Dienstes aus dem LAPD gefeuert wurde und letztendlich, eine einundzwanzigjährige Miss Marple, die Superbullen als Blödmänner entlarvt.
Grotesk, spannend, mit hintergründigem Slapstick-Humor: Candice kann es.
7 Die Schuld (The Guilt We Carry 2019)
Auch Samuel W. Gailey – wie Hervé Le Corre und Shehan Karunatilaka – ist neu auf der Krimibestenliste und Debütant im deutschen Krimifeld. Hanspeter Eggenberger, wie immer akribisch, hat zusammgetragen, was man über den zurückgezogen lebenden Autor wissen kann.
In DIE SCHULD dreht Gailey gängige Western-Krimi-Topoi auf Links: Alkoholiker wird Alkoholikerin, Flucht vor gemeinen Gangstern, die Slapstick-Gangster sind Riese und Zwerg, Intellektueller und Blödie, geklaute Beute, Flucht vor Eltern und Schuld in Arme eines fürsorglichen Beschützers. Auch der Tod eines schlecht beaufsichtigten Kleinkindes in der Trocknertrommel stammt aus der Requisite.
Doch das, was Gailey draus macht, ist immerhin ziemlich originell. Weshalb ich der schuldbeladenen Alkoholikerin Alice das halbwegs gute Finis durchaus gönne.
10 Berlin, Siegesallee
In fast allen seinen Romanen, so auch in diesem, der im Jahre 1914 spielt, thematisiert Max Annas das Thema der Gegenwehr und des Überlebens Schwarzer in einer von Weißen dominierten Welt.
In BERLIN, SIEGESALLEE wehren sich Joseph (aus einer Händlerfamilie in Kamerun, Student der Nationalökonomie, Anwärter auf ein Theologiestudium), Ernst (Gärtner und Hausdiener aus Deutsch-Südwest, sehr belesen, erfahren in Krieg und Kampf), Friedrich (Sohn eines Kammerdieners, gebildet, Bote eines Schneiders mit Ambitionen auf einen eigenen Salon) gegen die Demütigungen des Alltagsrassismus, die Unterdrückung ihres Volkes und den deutschen Überlegenheitswahn. Zusammen mit der glühenden Frauenrechtlerin Florentine vom Baum töten sie zwei Militärs, und, als dies nicht das erwünschte antikolonialistische Fanal auslöst, planen sie, den Kaiser zu ermorden.
Annas skizziert in einem extra altertümlichen Deutsch die wilhelminische Gesellschaft ganz wunderbar. Bei den Gängen durch Tiergarten, Wedding oder Botanischen Garten hört man das Laub und die Ratten rascheln, teilt die Gefühle der Protagonisten.
Da wir den Ausgang der Geschichte kennen, den Annas nicht geändert hat, verläuft sich sein Roman ein wenig in Satire und Verzweiflung. Bedrückend die Briefe, die der nach Kamerun zurückgekehrte Joseph an Florentines Bruder und seinen Herzensfreund Thomas schreibt. Sie reichen zeitlich bis in den Zweiten Weltkrieg und bezeugen eine Möglichkeit der Deutschlandliebe, die sicher sehr selten gewesen ist: Joseph beschließt, sich dem antinazistischen Kampf in Nordafrika (Rommel!) anzuschließen.
Annas hat eine historische Phantasie geschaffen, in der die Morde leicht fallen, weil das Leid so schwer ist.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE FEBRUAR?
Die KRIMIBESTENLISTE FEBRUAR ist seit Freitag, dem 2. Februar 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE FEBRUAR hier.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Schalten Sie ein!
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste Februar.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
NEWS AUS DER SZENE IM FEBRUAR
Zu seinem achtzigsten Geburtstag wurde Frank Göhre für seine großen Verdienste um die Hamburger Kultur vom Hamburger Senat mit der Senator-Biermann-Ratjen-Medaille ausgezeichnet.
Frank Göhre (l.) und der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda © Andreas Pufal
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Frühlingstage!
Ihr Tobias Gohlis