Vier neue Titel: je einer aus Australien und den USA, zwei aus Großbritannien.
Die Schauplätze: Mornington Peninsula, Grenada („Camaho“), Brooklyn, Podcast-Universe.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 19 Monaten.
Stilistische Antipoden bevölkern die August-Bestenliste. Auf der einen Seite finden Sie hier die beiden Netzeknüpfer Disher und Boyle, die um feste reale Orte Beziehungsnetze weben, zwischen denen ihre Protagonisten wie junge Spinnen vor der Netzflucht herumwuseln. Auf der anderen Seite werden Sie in Orte gelockt, die zwar eine Verankerung im Realen haben, aber das Gegebene Reale zu weiten Ausflügen nutzen: Ross in eine phantastische Karibik, Mina in die virtuelle Hörwelt der Podcasts, die an allen Orten zugleich spielen können.
Platz Eins im Juli:
1 Funkloch (Signal Loss)
Bewundernswert, wie Garry Disher mit den verschiedenen Settings seiner Romanserien jongliert: hier die brutale, in knappen Sätzen flüchtig fixierte Welt des Gangsters Wyatt, dort die verdorrte, menschenarme Landschaft Constable Hirschhausens und in der Mitte die sieben Romane um Inspector Hal Challis, im Vergleich geradezu hoch bevölkert mit Bösewichtern aller Art und einer ganzen Kompanie von Polizistinnen und Polizisten.
Exemplarisch in FUNKLOCH: Inspector Hal Challis, älter geworden, aber noch anziehend, in der Rolle des Backups für alle, erfahren, zurückhaltend, zupackend in der Not. Zwei Frauen, die splitterscharfe Karrieristin Senior Sergeant Coolidge von der Drogenfahndung und seine Freundin Ellen Destry, die einfühlsame Leiterin der neu eingerichteten Abteilung Sexualdelikte, um ihn herum. Dazu das Spinnennetz der Fälle, Vergehen, üblen Geschehen; erst ganz zum Schluss werden sie ordentlich zusammengefügt zu einem Bild, das jeden Augenblick wieder in andere Bilder zerfallen kann. Momentaufnahme.
In Mornington Peninsula, einer Region „voller Funklöcher“, die persönliche Ermittlungen, körpernahe Aufmerksamkeit und lange Wege erzwingt. Menschen verschwinden im Nimmerwo: zwei eingereiste Auftragsmörder verbrennen im Fluchtauto, ein kleines Mädchen ist plötzlich weg. Melbourne liegt eine Autostunde entfernt, gute Surfstrände sind nah, in Dishers fiktivem Revier Waterloo werden keine entscheidenden Schlachten geschlagen, sondern nur die unendlichen Scharmützel des Alltags bestanden.
Disher ist einer der besten lebenden Romanciers, in Australien sowieso. Lesen Sie auch Alf Mayers Interview mit Garry Disher im culturmag. Am Freitag, den 4.8., hat Sonja Hartl FUNKLOCH in Deutschlandfunk Kultur besprochen. Hier ihr Text.
7 Shadowman (Black Rain Falling)
Hätte man Jacob Ross‘ ersten Thriller DIE KNOCHENLESER von der Karibikinsel „Camaho“, hinter der sich die Antilleninsel Grenada verbirgt, noch für den genialen Wurf eines Krimineulings halten können – mit SHADOWMAN, seinem zweiten, erklimmt er aufregende Höhen, nicht nur seiner einheimischen literarischen Berge. Seit 1984 lebt der 1956 in Grenada geborene Ross in Großbritannien. Der Kriminalroman ist sein fliegender Teppich, auf dem er zurückkehrt in die tropische Heimat seiner Jugend.
Auf einer kleinen Insel muss alles im verborgenen geschehen, denn alle beobachten einander. Auch die meisten Verbrechen sind bekannt, nur werden nicht alle bestraft. So schleppt Michael „Digger“ Digson den Mord an seiner Mutter mit sich herum, Miss Stanislaus die ungerächte Vergewaltigung durch den Riesen Juba Hurst. Bis sie eines Tages Gelegenheit findet, diesen so hinzurichten, dass das als Notwehr durchgehen kann. Doch in Camaho zählen Fakten nur wenig, erst recht keine juristischen. Wichtiger sind Herkunft, Geschlecht, Familienzugehörigkeit, Überleben, Fortkommen. So dass Digger und Miss Stanislaus nicht nur raffinierte Drogenschmuggler und ihr Erpressungssystem bekämpfen müssen, sondern viel mehr noch Vorurteile, soziale Schranken, Angst und Scham.
Zwischen alten wissenden Frauen und neuen skrupellosen Neureichen gibt es keinen geraden Weg, dschungelhaft verworren sind die Verhältnisse und unklar die Regeln. Ross schafft eine Atmosphäre bedrückender Unruhe und Ungewissheit, das Porträt einer wunderschönen Insel, in prekärem Ungleichgewicht zwischen Alt und Neu, Arm und Reich. Und immer wieder sind es ihrer selbst nicht gewisse Machos, die aus ihrer Unsicherheit Horror schaffen. So dass Diggers Versprechen an Miss Stanislaus das Maximum an möglichem Vertrauen bietet: „Ich zerstör lieber mich selbst, als dass ich das zerstör, was ich liebe, oder jemand anderem erlaub, es zu zerstören.“ Und dann schwingt er seinen Ledergürtel wie Indiana Jones seine Peitsche. Dazu tupft Miss Stanislaus „sich zierlich die Lippen mit der weißen Stoffserviette ab.“
8 Shoot the Moonlight Out
Seit seinem ersten Roman GRAVESEND kennen die Leser von William Boyle den Kosmos, aus dem er Geschichte um Geschichte schöpft: Brooklyns armer Einwanderersüden. Das Hipster-Brooklyn um Williamsburg „liegt fünfzehn U-Bahnstationen entfernt“, schreibt Günter Grosser in seinem einfühlsamen Nachwort. Obwohl Boyle längst in Faulkners Oxford in Mississippi lebt, ist er der Poet der Armen, Verrannten, vom Leben Gebeutelten Brooklyns.
Und so beginnt SHOOT THE MOONLIGHT OUT mit einem Dumme-Jungen-Streich: Bobby und Zeke – später wird der eine Bürohilfe, der andere Drogendealer sein – schmeißen Steine von einer Straßenbrücke, die achtzehnjährige Amelia verunglückt tödlich. Boyle entwickelt seinen Roman aus biographischen Dossiers, als fiktionale Soziologie. Jack, Amelias Vater, wird stumpf vor Trauer, findet aber 5 Jahre später in Lilys Schreibwerkstatt neuen Mut, eine Ersatztochter und Befreiung durch Schreiben. Da sind aber längst andere Fallen gestellt: Psychopath Charlie hat durch Raub und Mord eine Tasche mit Geld und Drogen an sich gebracht, Bobby will mit ihr und seiner Freundin durchbrennen. Träume und Illusionen, Hoffnungen und Verzweiflung, Einsamkeit, es endet in einem Blutbad.
Boyle nimmt alle seine Figuren ernst, in ihrem Leid, ihrem Hass und ihrer Freude. Und kann alles aus ihrer Sicht in die richtigen Worte fassen, ein zeitgenössischer, bodenständiger Nachfahre Faulkners.
9 Fester Glaube (Confidence)
Mit KLARE SACHE (2019) erschrieb sich Denise Mina mehrfach neues Terrain: Sie drang nicht nur in die bisher von ihr kaum beschriebene Welt von Pop und Reichtum vor und streifte durch die Länder Europas, sondern erschloss sich auch die Erzählwelt der Podcasts, genauer die der True-Crime-Podcasts. Da dieses Medium mit seinen verschiedenen Schauplätzen, versetzten Zeiten und unterschiedlichen literarischen Formen (vom Interview bis zur Novelle) so viele verschiedene Möglichkeiten bot, wurde auch die Handlung abenteuerlich. Schon war der Podcast, den Mina erstellte und erzählte, das einzig Reale. Die kriminalliterarische Fiktion einer erzählten Realität begann sich in der Form des Erzählens aufzulösen.
Was 2019 so wenig wie die altbekannte Mina wirkte, dass kaum jemand den formalen Sprung der Autorin ins Hyper-Fiktionale wahrnahm, wird in FESTER GLAUBE selbst zum Thema. Schipperten in KLARE SACHE die Verbrechen noch am Rande der Wahrscheinlichkeit deduktiver realistischer Aufklärbarkeit, zielt Minas zweiter Versuch ins Zentrum des (Kriminal-)Erzählens: was ist wahr in der anscheinend realistischen Erzählung?
Dazu dient ein Plot, der geradezu tollkühn und hintergründig ironisch mit dem Anspruch des Genres True Crime jongliert, nämlich von tatsächlichen Verbrechen zu erzählen. In FESTER GLAUBE sind Minas „Wahre Verbrechen“ purer Hokuspokus. Eine uralte Schatulle, die die „Wahrheit über Jesus“ enthalten soll, wird entdeckt, die Entdeckerin, eine Urban-Exploration-Youtuberin, verschwindet mit ihr, eine Hetzjagd à la Dan Brown beginnt.
Genüsslich dreht Mina Browns Schwindelmasche um. Dieser hatte mit den Mitteln des enthüllenden Kriminalromans eine religiöse Verschwörungstheorie von einer Love-Affair Jesu mit Maria Magdalena so in Szene gesetzt, dass tausende gutgläubige Spökenkieker sich auf die Suche nach weiteren Beweisen oder „theologischen Indizien“ für Geschlechtsverkehr und Nachkommen des Gottessohns machten. Mina hingegen macht sich einen Spaß daraus, uns mit der Nase darauf zu stoßen, dass True Crime, angewandt auf Religion nicht nur Fiktion, sondern Lüge ist, bis sich die Kreuzbalken biegen. Mit den Mitteln der abenteuerlichen Verschwörungserzählung stellt sie den Wahrheitsanspruch des True-Crime-Podcasts und seine Realitätsversprechen vom Kopf auf die Füße.
Wer sich bis zum Schluss von FESTER GLAUBE fragt, was denn in der Schatulle ist, welche Beweise über Jesus (Existenz, Homosexualität, Wunder, Essgewohnheiten, Heilungen, Abstammung) sie nun verbirgt, muss diesen großen, intelligenten Spaß wie Sisyphos immer wieder lesen.
Und wo gibt es die KRIMIBEWSTENLISTE AUGUST?
Die KRIMIBESTENLISTE AUGUST ist seit Freitag, dem 4. August, auf Deutschlandfunk Kultur zu finden und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Die KRIMIBESTENLISTE AUGUST vom Deutschlandfunk Kultur gibt es als zweiseitiges PDF hier.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 4.8., hat Jurymitglied Sonja Hartl die aktuelle Nummer Eins FUNKLOCH besprochen. Die Rezensionen wie auch der Link zur Krimibestenliste sind auch online auf der Seite Bücher des Monats nachzuhören und zu –lesen.
Dank an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Sommertage!
Ihr Tobias Gohlis