Eine erschütternde Reportage über den Tod eines Aborigine in Polizeigewahrsam – und wie es dazu gekommen ist
Ethnographisch wie geographisch einwandfrei australischer Norden sind die Schauplätze von Chloe Hoopers erschütternder Reportage DER GROSSE MANN.
In den Jahren 2004 bis 2007 wurde der Staat Queensland von politischen Auseinandersetzungen aufgewühlt, in denen Grundfragen des australischen Selbst- und Geschichtsverständnisses aufbrachen. Der Tod des 36jährigen Aborigines Cameron Domadgee auf der Polizeiwache von Palm Island 2004 führte zu dem ersten Prozess, der je gegen einen verantwortlichen Polizisten wegen Tod in Polizeigewahrsam geführt wurde.
Bis dahin sahen sowohl Aborigines als auch Polizisten so ein Ende in der Zelle als Kollateralschaden ihrer normalen Beziehungen an. Seit 1990 eine Kommission zur Untersuchung (nicht: Vermeidung) von Todesfällen von Aborigines in Polizeigewahrsam eingerichtet worden war, war Camerons Tod der 147. registrierte Fall.
Zerrissene Leber
Am 19.11. 2004 erlebte Cameron – mehr oder minder betrunken – mit, wie ein Kumpel, der im Suff drei Frauen verprügelt hatte, von dem lokalen Polizeichef Christopher Hurley brutal in einen Polizeiwagen geschleudert wurde und kommentierte das im Vorübergehen, indem er sang: „Who let the dogs out? Whuff, whuff, whuff.“ Hurley fuhr ihm nach, warf ihn mit roher Gewalt – Hurley war über zwei Meter groß und wog knapp doppelt so viel wie der 1,78 m messende Cameron – in seinen Truck. Als er ihn vor der Wache herausriss, verpasste Cameron ihm eine, die beiden stolperten und fielen in die Wache, wo Hurley seinen Gefangenen hinter einem Tresen zusammenschlug. Eine Stunde später war Cameron, unter anderem an einer zerrissenen Leber, innerlich verblutet. Auf seine Hilferufe hatte niemand reagiert. Mehr oder minder genau lassen sich der Vorfall, der zur Anklage wegen Totschlags, zu Unruhen der schwarzen Bevölkerung, zu Prozess und Freispruch führte, in der Wikipedia nachlesen. Und in Alf Mayers begeisterter Rezension
Zwei Stämme
Chloe Hooper zeichnet in ihrer großen literarischen Reportage nicht nur diese Details in aller Widersprüchlichkeit und Zweifelhaftigkeit der Zeugenaussagen nach. Alle schwarzen Zeugen waren betrunken – Camerons Zellennachbar sogar so sehr, dass er bewusstlos war, als Cameron neben ihm starb – , der schwarze Kontaktbeamte schwankte im Loyalitätskonflikt zwischen Korpsgeist und Stammeszugehörigkeit. Die weißen Zeugen waren Polizisten und revidierten ihre Aussage nach Prozesslage. Als der Generalstaatsanwalt von Queensland sich über die getürkten Ermittlungsergebnisse mit Hurley befreundeter Polizisten und die Entscheidung der Oberstatsanwaltschaft hinwegsetzte und Anklage gegen Hurley erhob, mobilisierte die Polizeigewerkschaft ihre Mitglieder und darüberhinaus große Teile der weißen Öffentlichkeit zur Unterstützung des Angeklagten. Hooper bitter: „Fitzpatricks Stamm (die Polizeigewerkschaft, T.G.) , unterbezahlt und vielleicht auch unterschätzt, war sehr viel intakter, homogener, mächtiger und privilegierter als der von Cameron. Und er war auch eher in der Lage, eines seiner Mitglieder zu verteidigen.“
Hooper ist diesen beiden Stämmen und den Individuen nachgereist: Dem charismatischen Polizisten, der physisch dem Großen Mann, dem Unglücksbringer der Aborigine-Tradition ähnelt, und seinem gleichaltrigen Opfer. Hurley hat sein Leben lang im Norden – der Wildnis – verbracht und in abgelegenen Posten unter Aborigenes gearbeitet, angeblich kein Rassist. Aber vielleicht als Ordnungshüter einem Missionar ähnlich, der seine Bibel wie eine Peitsche einsetzt: Hooper rekonstruiert einen Teil der systematischen Vernichtung der Aborigine-Seelen durch die „zivilisierten“ Missionare, die sie als Sklaven hielten, ihnen die Kinder wegnahmen, um sie durch sexuelle und pädagogische Gewalt zu Weißen zu machen. Hooper hat die ehemaligen Missionsstationen besucht, aus denen Domadgees Elternfamilien entfernt und auf die „Gulaginsel“ Palm Island verbannt worden waren, mit anderen Opfern der Assimilitationspolitik aus den lebenswichtigen Bindungen an den Stammesort und die Familie gerissen.
Hooper macht sich nichts vor, auch nicht über eigene Vorurteile und Verständnisschwierigkeiten. Aber sie schaut hin und zeigt im Verhalten der beiden Stämme, welche ungeheuren Verwüstungen die Unterdrückung und Vernichtung der Aborigines durch die weißen Invasoren angerichtet hat – bei beiden. DER GROSSE MANN ist vieles: eine Studie über die Polizei- und Staatsgewalt gegen die Aborigines, denen alle Menschenrechte genommen wurden – der Prozess 2007 markiert einen Moment des langsamen Umdenkens – ,eine erschreckende Darstellung der Lebens- und Gewaltverhältnisse unter den Aborigines, ein Loblied auf die Würde vor allem ihrer Frauen, eine nachhallende Klage über die innere soziale und spirituelle Wüstenei Australiens.
Chloe Hooper: Der große Mann
Aus dem Englischen von Michael Kleeberg
Liebeskind, 368 Seiten, 22 €
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