Drei Titel sind neu: Zwei aus Deutschland und einer aus Großbritannien.
Die Schauplätze: Herne, „Vincke“, Berlin, Frankfurt/Main, Leverkusen, Neapel, Monte Carlo, Sylt, Palermo, Paris, Cap d’Antibes, Cannes.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit drei Jahren und zwei Monaten. Und über den Imperialismus aus dem Weißen Haus ebenso.

Noch einmal zwei neue Autoren aus Deutschland: ein Altmeister und ein junger Meister. Leider schon tot ist der dritte Altmeister, der in keine Schublade passt, aber diesmal einen Detektivroman geschrieben hat, in dem ein Bruchpilot die Orientierung verliert.
Neu auf Platz Eins im April:
1 Skin City
Von Platz 6 auf Platz 1. Meine Rezension bei Deutschlandfunk Kultur finden Sie hier.
Neu auf der Krimibestenliste April:
4 Die Kurve
Alles dreht sich irgendwie um Carls Telefon. Er hat davon mehrere, in verschiedenen Farben, damit er unterscheiden kann, wer ihn anruft und seine Dienste verlangt. DIE KURVE, Dirk Schmidts Debüt im Suhrkamp-Verlag, ist telefon- und dialogträchtig. Schmidt ist ein versierter Hörspielautor, und man muss sich Mühe geben, die Stimmen der Figuren zu unterscheiden. Detektivische Arbeit sei verlangt, schrieb WAZ-Chefreporter Kultur Jens Dirksen in seiner Besprechung, und das mache den Reiz der Lektüre aus.
Als Carl noch Karl hieß, leitete er in Herne das Jugendzentrum DIE KURVE und stieg, als die Sozialarbeit keinen Spaß mehr machte, mit einigen seiner Klienten ins Heroin-Business ein. Das erfahren wir verstreut im Verlauf der Telefonate . Die Kumpel von damals sind weit über Europa verstreut, einige arbeiten noch immer für Carl. Sagen wir, im Dienstleistungsgewerbe. Wenn jemand, und das sind meistens Gangster, ein Problem hat, ruft er Carl an.
Und so muss Ridley, der seine Angst vorm Einschlafen mit Sexsucht bekämpft, einem sterbenskranken Mafiaboss aus der Nähe von Neapel samt Capo und Tochter durch Deutschland begleiten, weil der seine Nachfolge regeln will. Und Betty, ebenso schlaue Taschendiebin aus Berlin-Marzahn, wird beauftragt, den gewaltsamen Tod der Tochter eines einsitzenden Gangsters aus Detroit aufzuklären.
Nach und nach, und das ist sehr artifiziell gemacht, schälen sich überraschend komplexe Figuren und Handlungsstränge heraus. Das Leben ist löchrig und ohne Verluste nicht zu haben. Eine Rückkehr auf die Insel genannt DIE KURVE ist verwehrt. Der Roman liest sich wie ein Versprechen.
5 Sizilianische Nacht
Dass Altmeister Frank Göhre von dem Literaten, Schachspieler und Erfinder eines Wohnmobils Raymond Roussel, fasziniert war, konnten Leser des CulturMag spätestens seit 2018 wissen. Wie Friedrich Glauser, dem Göhre seine empathische Roman-Biographie MO gewidmet hat, war Roussel nicht ganz von dieser Welt. Süchtig nach Tabletten und Erlösung kommt Roussel in der Nacht vom 13.zum 14. Juli 1933 in Palermo zu Tode.
Die polizeilichen Ermittlungen sind oberflächlich, und wie schon sein berühmter Kollege Leonardo Sciascia zweifelt Göhre an den dürftigen und denunziatorischen Berichten der Polizei („geisteskrank“) und imaginiert seine eigene Geschichte vom Tod Roussels. Den er „Jean-Paul Durand“ nennt, denn die Umstände seines Todes, seiner Ermordung, sind Göhres Erfindung:
„Ich habe auf Grundlage der Fakten seine Geschichte fiktional erweitert und zu meiner Geschichte gemacht. Zu einer Erzählung über Sehnsucht zu und Suche nach sich selbst.“ (Nachwort)
2012 hat Göhre in eben dem „Grand Hotel et Des Palmes“ gewohnt, das Schauplatz von Sizilianische Nacht ist. Das hat ihn zu einer Textcollage über ein Gipfeltreffen der Mafia angeregt. Sie ist im Nachwort wieder abgedruckt.
9 Super-Cannes (Super-Cannes)
J.G.Ballard (1930 – 2009) ist ein Autor, dessen Bücher man eher im Regal für Science Fiction erwarten würde. Aber gegen Ende seines reichen Lebens hat er eine Art „Gated Community-Trilogie“ (Marcus Müntefering) geschrieben, in der er seine Skepsis gegen den späten Kapitalismus noch einmal zusammenfasst – in krimi-ähnlichen Handlungen. Aus dieser Trilogie hatte es Millennium People (2003, deutsch 2018) auf die Krimibestenliste geschafft. Darin revoltiert die bürgerliche Mittelschicht gewalttätig gegen Geschäfte und Kultureinrichtungen, eigentlich gegen die Sinnleere ihrer Existenz.
In SUPER-CANNES wird dieses Thema variiert. Paul Sinclair ist ein Bruchpilot. Er ist schwer verunglückt, laboriert mit einem Knieschaden und folgt deshalb bereitwillig seiner Frau Jane in den Businesspark Eden-Olympia oberhalb von Cannes, wo sie als Ärztin angestellt ist. Er hat Zeit herumzustromern und zu recherchieren, warum der Vorgänger seiner Frau in einem Amoklauf zehn Menschen und sich selbst getötet hat. Sinclair stößt auf ein Programm, dass der charismatische Psychiater Wilder Penrose den von der Lenkung der Weltkonzerne ausgelaugten Wirtschaftsführern im Businesspark verpasst. Er ermuntert sie, ihren Trieben freien Lauf zu lassen: Unter den glatten Schatten wächst das Verbrechen.
SUPER-CANNES wurde 2000 veröffentlicht, aber erst jetzt ins Deutsche übertragen. Es ist das dystopische Buch zur Stunde, in der sich die vermeintlichen Weltführer in Ost und West sich wie die antiken Götter fühlen und agieren: hier mal ein Blitz geschleudert, dort eine Wirtschafskatastrophe angezettelt. Spannend zu lesen ist nicht nur die bissige prophetische Vorausschau Ballards, sondern auch die Reaktion des Hobbydetektivs Sinclair: Wie wird er auf seine Entdeckung vandalierender Manager reagieren?
Wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE APRIL?
Die KRIMIBESTENLISTE APRIL ist seit Freitag, dem 4. April 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online. Ein zweiseitiges PDF kann dort heruntergeladen werden.
Ein einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen gibt es auf meinem Blog Recoil sowie das Archiv aller Krimibestenlisten seit 2005.
Die Neuigkeiten auf der Krimibestenliste April hat Kolja Mensing am Freitag, den 4.4., hier besprochen.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, rezensiert. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 4. April habe ich für die Nummer Eins der Krimibestenliste im April SKIN CITY begeistert: ein heiterer Noir.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste April nebst hochinteressanten Rezensionen nicht nur zu den Titeln der Krimibestenliste.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Bemerkenswertes aus der Kultur- und Krimiwelt
Wer sich zufällig oder nicht zufällig in der Nähe von Hamburg befindet, könnte am Dienstag, den 8.4., ins KulturWerk Rahlstedt kommen, wo ich um 19:30 darüber spreche, wie man gute Krimis entdeckt, über 20 Jahre Krimibestenliste.
Zu Recht, auch an dieser Stelle, wurde immer wieder die Edition von Ross Thomas im Alexander Verlag gelobt, die das Werk dieses großen Autors von Politthrillern erstmals vollständig auf Deutsch in revidierten oder neuen Übersetzungen präsentiert.
Jetzt ist mit STIMMENFANG der letzte, der 25. Erschienen und die Edition abgeschlossen. STIMMENFANG beruht auf Thomas‘ eigenen Erfahrungen als Wahlkampfberater in Nigeria und schildert eine entsprechende PR-Aktion im fiktiven Albertia.
In Zeiten wie diesen sind die Bücher von Ross Thomas, der die amerikanische und westliche Politik seziert und beschrieben hat wie keiner, eine unersetzliche Lektüre.
Schreibe einen Kommentar