DIE KRIMIBESTENLISTE IM JUNI: Fünf Neue, drei aus den USA und zwei aus Deutschland
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Daher nur knapp ein paar Bemerkungen zu den neuen Titeln:
Unsere Nummer Eins läutet den Abschied des Autors Don Winslow von der Literatur ein. Vorgeblich sind die drei Bände der geplanten Trilogie über die Schicksale der kleinen irischen und italienischen Mafiagruppen aus Rhode Island schon fertig. (Hierzu ein schönes Interview von Jurymitglied Marcus Müntefering mit Winslow im Spiegel.)
CITY ON FIRE, der erste Band, enthält jedenfalls bereits fast 20 Seiten aus dem zweiten CITY OF DREAMS, in dem der Held Danny Ryan nunmehr in Kalifornien versucht, seine Truppe gegen die Italiener zusammenzuhalten. CITY ON FIRE erzählt, wie Liam Murphy Paulie Moretti die wunderschöne Pam ausspannte und daraus ein Mafiakrieg entstand, in dem viele Menschen starben und einige wenige wie weiland Äneas die Flucht aus dem brennenden Troja in wärmere Gefilde antreten.
Gewidmet ist CITY ON FIRE den Opfern der Pandemie, aber offensichtlich können weder Winslow noch seine amerikanischen oder deutschen Lektoren ausreichend Latein, um den Grabspruch „Resquiescat in pace“ in den Plural zu setzen, so dass es nur einer ist, der in Frieden ruhen soll. Zu der verlegerischen Schlamperei gehört, dass die motivisch eingeblendeten Zitate aus der Ilias und der Aeneis keine deutschen Übersetzer haben (Man hat, vermutlich aus Lizenzgründen, die gemeinfreien alten, besonders bombastisch antik klingenden gewählt).
Mir hat sich auch nach Beischaffung von Sekundärinformation über die Tätigkeiten der Autorin Sybille Ruge als Lyrikerin und Textildesignerin nicht jeder Anspielungsaspekt von DAVENPORT 160X90 voll erschlossen; ich musste das spannende Experiment mit einer vollständig neuartigen deutschen Krimi-Stimme zweimal lesen, um einigermaßen durch dieses Feuerwerk von Sentenzen, Assoziationen und Bildern durchzusteigen.
Gemach, liebe Leserinnen und Leser, das ist zwar Avantgarde, aber das heißt keineswegs: kein Krimi. Im Gegenteil, so wie Ruge Stoffe kreiert, in denen nicht-textile Elemente wie Plastikteile oder Fundstücke in das Gewebe integriert sind, sind auch in DAVENPORT 160X90 Elemente der Kriminalliteratur als Stützen dienende und tragende Bestandteile eingezogen: Selbstreflexionen über das Detektivische, Erbschafts- und Abstammungskämpfe, skrupellose Stars, Privatdetektive, Morde, Tod und Syndikate etc. mit ihren jeweiligen Anspielungshorizonten. Interessant übrigens, dass eine andere Autorin, Susanne Saygin, zur Charakterisierung ihres snobby Upperclass-Milieus ähnlich wie Ruge die Kunstszene wählt.
Allein gemessen am Stand der deutschsprachigen Sachliteratur über Kunstraub/Kunstszene und der diesen behandelnden Fiktion ist DAVENPORT 160X90 ein überragendes Meisterwerk, das neue Maßstäbe setzt. Darüberhinaus sowieso.
Also: Wagt Euch hinein und kommt verändert, bereichert, belehrt, belustigt und traurig wieder raus. Denn DAVENPORT 160X90 ist sowohl der schärfste als auch der traurigste Krimi, den ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.
Amerikanische Kritiker von S.A. Cosby heben hervor, dass er der Autor des gewalthaltigen Südstaaten-Noir ist. Auch DIE RACHE DER VÄTER (welch sachlich treffender, wenn auch schwacher Titel im Vergleich zum originalen RAZORBLADE TEARS) spielt wieder unter den Schwarzen und Weißen des US-Südens, in und bei Richmond, wo Cosby selber lebt.
Zwei Väter, der eine Weiß, der andere Schwarz, beide Ex-Knastis und daher Underdogs, hatten schwule Söhne und kamen milieugerecht mit deren sexueller Orientierung und Heirat nicht klar. Als beide Söhne erschossen werden, schwören die Väter über dem Grab Rache und müssen wortreich und mit wachsender Waffengewalt ihre Vorurteile gegen LGBTQI überwinden, um die Mörder zu stellen und „Verbündete“ dieser Communities zu werden.
Schade nur, dass die homophoben, rassistischen Prolls, an die sich RAZORBLADE TEARS aufklärerisch wendet, das Buch vermutlich nicht in die Hand kriegen werden.
BRACHLAND von William Boyle ist eine Etüde über das Kleine im Großen, wie Jurymitglied Ulrich Noller in seinem Nachwort ganz richtig herausarbeitet. GRAVESEND, der Stadtteil im Süden von Brooklyn, aus dem Boyle stammt und dem er bereits sein erstes Buch gewidmet hat, wird hier, in BRACHLAND, in bewundernswerter Weise verdichtet, als Neighborhood der Sehnsüchte und religiösen Verhaltensweisen, des Umgangs mit Außenseitern und der verschiedenen Arten, in denen kleine Leute, meist italienischer Abstammung, das große Versprechen der amerikanischen Verfassung „pursuit of happiness“ verfolgen und sie davon verfolgt werden.
Boyle erweist sich nicht nur als Seelenkundler von Graden, sondern vor allem auch als Darsteller von Frauen, ihrer Unterdrückung, ihrem Freiheitsdrang und ihrer spezifischen Sehnsucht nach Erlösung in einem Umfeld, in dem sie nichts zu meckern haben.
Mit DIE SCHÜLERIN – EIN ALTER FALL VON KRIMINALDIREKTOR A.D. MANZ hat Matthias Wittekindt den maximal unspektakulären Titel für ein Buch gewählt, das allzu lange der Aufmerksamkeit der Jury entgangen ist. In einem schönen Zweiklang von Großvaterleben mit der kleinen Enkelin, mit Rückenbeschwerden und Zank mit der Tochter und von ausgreifender Erinnerung an einen merkwürdigen Mordfall in der Nähe einer Reformschule arrangiert der große Arrangeur Wittekindt aufs Allerfeinste ein zentrales Problem der (Kriminal-)literatur: Wie stelle ich das Wirken des Zufalls und der Unwägbarkeiten in einem als real vorgestellten Umfeld so dar, dass es ästhetisch geplant und schlüssig ist, aber wirkt, als sei es vom Himmel gefallen.
Dabei ist der geschilderte Fall kriminalistisch stringenter ausgefallen als der Erstling seiner Manz-Reihe (hierzu die Überlegungen von Wolfgang Brylla zu Serie und Reihe im CrimeMag) VOR GERICHT. Einfach lesen.
Die Krimibestenliste Juni ist seit Freitag, dem 6. Mai, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Und bereits am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur CITY ON FIRE als höchsten Neueinstieg besprochen.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre!
Ihr Tobias Gohlis
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