Vier neue Titel: je einer aus Italien und Brasilien, zwei aus den USA. Die Schauplätze: Upstate New York, Rom, São Paulo, South Bend.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 24 Monaten.
Platz Eins im März:
Neu auf der Krimibestenliste März:
3 Notizen zu einer Hinrichtung (Notes on an Execution)
Diese Autorin muss man sich merken. Danya Kukafka, Jahrgang 1993, schon für ihr zweites Buch NOTIZEN ZU EINER HINRICHTUNG 2023 ausgezeichnet mit dem Edgar Allan Poe Award.
Die Todesstrafe trübt wie eine bleierne, ungesühnte Schuld das ethische Bewusstsein der Vereinigten Staaten, egal, wie die einzelnen Bundesstaaten zu ihr stehen, die sie mal vollstrecken, mal nicht.
Mit ihren NOTIZEN sticht Kukafka in den soziologisch-psychisch-moralischen Bereich, zu dessen Syndromen die Todesstrafe selbst gehört: die strukturelle patriarchale Gewalt.
Nicht das juristische Für und Wider, nicht einmal die moralische Frage, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, Menschen für ein Verbrechen zu töten, steht im Zentrum des Romans. Fragen dieser Art müssen die Leser sich selbst beantworten. Im Zentrum stehen vielmehr verschiedene Facetten dieser patriarchalen Gewalt selbst.
Zunächst ist das die Geschichte des Serienmörders Ansel Packer. Zwölf Stunden hat er bis zu seiner Hinrichtung. Seinen Charme bei den Frauen versucht er für eine letzte Flucht zu mobilisieren (klassischer Todeszellenroman-Topos). Nachdem das gescheitert ist, rekapituliert er sein Leben, fragt sich, wo er anders hätte handeln können. Doch Kukafka erzählt, sehr geschickt mit Vor- und Rückverweisen, nur indirekt von ihm, sondern von der Art der Beziehungen von drei, eigentlich sogar vier Frauen zu ihm. Es sind nicht die zu den drei von ihm als „Mädchen“ quasi entmenschlichten Opfer, die er 1990 getötet hat, um den unerträglichen Lärm in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Sondern die zu seiner Mutter Lavender, zu Hazel, der Schwester seiner von ihm Jahre später getöteten Ex-Frau Jenny, und zu der Polizistin Shaffy, die ihn überführt hat.
Wer will, kann eine Ursache, die Ansel zum Serienmörder gemacht hat, in der vierjährigen Quälerei erkennen, der seine Mutter Lavender in einer einsam gelegenen Farm durch ihr Scheusal von Ehemann ausgesetzt war, bis sie ihr entfliehen konnte. Um den Preis, ihre beiden kleinen Söhne allein und schutzlos zurückzulassen. Wesentlich komplexer sind die beiden anderen Beziehungen – ihre Verknüpfungen mit patriarchaler Gewalt aufzudröseln, würde den Rahmen sprengen.
Wichtig für die nicht nur von Ansel gestellte Frage nach alternativen Entscheidungsmöglichkeiten ist der in fast allen Rezensionen (auch in meinem 300 Zeichen-Kurzkommentar zur Krimibestenliste März) unerwähnte Kontakt zu Blue. Blue ist die vierte und einzige Frau, die nicht von Ansels dämonischem Machtbereich infiziert wird, ihm offen und unverkrampft entgegentreten und deshalb so etwas wie den Hoffnungsschimmer einer Verhaltensalternative aufglimmen lassen kann.
Auch wenn NOTIZEN ZU EINER HINRICHTUNG wegen der darin eingeflochtenen spannenden Jagd nach dem Mörder als „Serienkillerroman“, wenn auch als ein besonderer, verstanden werden kann – im Kern ist es das nicht. Sondern eine tiefgehende, eben profunde, Anklage gegen die Todesstrafe und das hinter ihr steckende patriarchale Menschenbild eines tötenden Männergottes, der seinen Lehmklumpen das Recht gibt, an seiner Stelle zu morden. Weshalb Kukafka eben auch keine Motivanalyse, keine psychologische Erklärung für das Warum der Taten noch eine Schuldbegründung liefert, sondern nur beeindruckende, aufwühlende Notizen zu einer Hinrichtung, deren Details sie uns nicht erspart. Der Serienmörder ist nur die Figur, die die Todesstrafe „am meisten“ gerechtfertigt scheinen lässt. Jede Leserin, jeder Leser wird gezwungen, seine persönliche Entscheidung zu treffen.
Der fulminanten Bedeutung von NOTIZEN ZU EINER HINRICHTUNG entsprechend verweise ich auf zwei Rezensionen von anderen Jurymitgliedern: Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau und Hanspeter Eggenberger auf seinem Blog.
Die Textfassung meiner allzu kurzen Besprechung bei Deutschlandfunk Kultur vom 1.März finden Sie hier. Erst bei Abfassung dieses Newsletters ist mir der humanistische Kern von Kukafkas Roman gänzlich aufgegangen.
5 Die Seele aller Zufälle (Ogni coincidenza ha un’anima)
Das Gedächtnis von Fabio Stassi möchte ich haben.
Denn angeblich schreibt er, im Hauptberuf Bibliothekar an der Biblioteca di Studi Orientali der römischen Universität Sapienza, seine Romane, auch DIE SEELE ALLER ZUFÄLLE, auf der Fahrt zur Arbeit im Zug. Selbst ein Laptop mit mehreren Terabyte Romanen, Schlagern und Comics wäre zu umständlich zu bedienen, um all die Anspielungen, Nebenverweise, Assoziationen und Literaturinterpretationen hervorsprudeln zu lassen, die Stassi uns in diesem einen Buch liefert. Sein Detektiv Vince Corso aber, Aushilfslehrer und Bibliotherapeut, hat sie alle im Kopf. Er ist, um Borges, eines der Vorbilder Stassis zu zitieren, eine wandelnde „Bibliothek von Babel“.
Im Unterschied zu Kukafkas NOTIZEN ist es mir gelungen, die eigentliche Kriminalhandlung auf 300 Zeichen zusammenzufassen. Der Kosmos aber, den Stassi nebenbei aufmacht, ist unerschöpflich. Loben muss man den Wagemut seiner deutschen Verlegerin Monika Lustig, und die Leistung seiner Übersetzerin Annette Kopetzki, dieses Buch der Abschweifungen überhaupt zu wagen, denn es fordert ambitionierte Leser.
Um nur ein Beispiel zu aufzuführen: Zum Schluss soll Corso diesen Zeitungsausschnitt lesen:
„Zwei Frauen meines Alters, eine kannte ich sogar. Ermordet, wenige Meter von hier. In diesem Viertel zu wohnen, wird langsam gefährlich.“
Darin versteckt sich ist ein doppelter literarischer Hinweis. Zum einen auf den Roman ICH TÖTE WEN ICH WILL, den Stassi als folgenden in der Serie um Vince Corso geschrieben hat. Zweitens auf den berühmten Roman von Carlo Emilio Gadda DIE GRÄSSLICHE BESCHERUNG IN DER VIA MERULANA. Der ist 1946 erschienen, spielt aber 1927 in der Hochzeit des Faschismus, den Gadda subtil beschimpft. Dieses Hauptwerk der italienischen Kriminalliteratur dient hinwiederum Stassi so sehr als Vorlage, dass er seinen Detektiv Vince Corso in der Via Merulana wohnen lässt und wie Gadda Rassismus und Nationalismus der römischen Gegenwart attackiert.
Meine Empfehlung für die Lesehungrigen: Beginnen Sie mit DER SEELE ALLER ZUFÄLLE, fahren Sie fort mit ICH TÖTE WEN ICH WILL.
Noch eine kleine Notiz: Beachten Sie die geschummerte Typographie von Stassis Namen im Titel: Das ist nicht verdruckt, sondern Ausdruck eines Zufalls. Und damit auch einer Theorie des Krimialromans.
6 Die Stadt der Anderen (Menos que um)
So wie Garry Disher der australische, ist Patrícia Melo unser brasilianischer Stargast. Mit jedem ihrer auf Deutsch erschienenen Bücher befand sie sich – seit es die Krimibestenliste gibt, oft monatelang – unter den zehn besten Kriminalromanen des Monats, zuletzt genau vor drei Jahren mit GESTAPELTE FRAUEN , eine Anklage gegen den in Brasilien grassierenden Femizid.
Einen ähnlich mörderischen Gegner hat sie sich jetzt mit DIE STADT DER ANDEREN vorgenommen: die Obdachlosigkeit. Die Praça Matriz (einer der vielen gleichlautenden Plätze in der 13-Millionen-Metropole São Paulo) ist der Überlebensmittelpunkt einer Gruppe von Armen und Obdachlosen und ihrer Sehnsüchte.
Der Müllsammler Chilves (er nennt sich vornehm „Recycler“), die schwangere Prostituierte Jéssica, der Totengräber und venezolanische Flüchtling Chacoy, viele von ihnen Schwarze – in der Not finden sie zusammen. Das Elend Brasiliens wird gespiegelt in einer Gated Community reicher Europäer. Bei einem Einbruch in die Häuser der Wohlhabenden – Ziel ist die Besetzung leerstehenden Wohnraums – werden einige Frauen vergewaltigt und ermordet. Anlass für die Polizei, die Obdachlosen als Verdächtige zu terrorisieren. Warmherzig und einfühlsam teilt Melo die Sehnsüchte der Armen. Kein Zweifel an ihrer Parteinahme.
Und an der Kraft der Literatur: Der Dichter Iraquitan gewinnt mit seiner Sammlung der Sprüche der Straße breite Zustimmung der Paulistas und kann sich von den Tantiemen ein Haus kaufen. Das nächste Buch, das er schreiben wird, heißt DIE STADT DER ANDEREN. Ein Zeichen der Solidarität.
9 Primat des Überlebens (The Bitch)
Das ist Noir: Unaufhaltsam wie eine Lawine geht es bergab.
Les Edgerton (1943 – 2023) saß zwei Jahre im Pendleton Reformatory wegen bewaffneten Raubüberfalls und anderer Delikte, bevor er 23 Bücher schrieb. Diese Knasterfahrungen bilden den Hintergrund von PRIMAT DES ÜBERLEBENS. Jake Bishop hat es fast zurück ins bürgerliche Leben geschafft und einen Friseusralon eingerichtet, als ein alter Knastkumpel, der ihm dort das Leben gerettet hat, auftaucht und ihn gemeinsam mit einem kriminellen Juwelier erpresst, einen Schmuckdesigner auszurauben.
Anfangs sieht es noch so aus, als könne Bishop heil und sogar mit einem Profit aus der Sache rauskommen. Aber wie es der Teufel und Bishops von katholischer Erziehung geformtes Gewissen wollen: Auch wenn Bishop alles andere im Sinn hat, zwingen ihn Erpressung, üble Umstände und die Erkrankung seiner schwangeren Frau, dorthin zurück, wo er niemals wieder sein wollte. In den Knast. Überhaupt nicht unschuldig.
Edgerton verfügte über eine verdammt üble Phantasie.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE MÄRZ?
Die KRIMIBESTENLISTE MÄRZ ist seit Freitag, dem 1. März 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden. Hanspter Eggenberger sei herzlich gedankt: Er hat dieses PDF der Krimibestenliste März auffälliger und damit besser auszuhängen gestaltet.
Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Am Freitag, den 1.März, habe ich den höchten Neueinstieg NOTIZEN ZU EINER HINRICHTUNG besprochen.
Weitere kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Das CulturMag präsentiert ebenfalls die Krimibestenliste März.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Frühlingstage!
Ihr Tobias Gohlis