Die Krimibestenliste im Juni: schwere, schwarze und leichte Kaliber
Kaum ist der kalte Frühling 21 abgeklungen, springen wir in die Sommerhitze Berlins. In Johannes Groschupfs zweitem Thriller BERLIN HEAT kocht die Hauptstadt im der ersten Hitze nach Corona. Tom Holoff geht seinen Geschäften nach: Glücksspielverluste an der Potsdamer Straße, Beglückung des berlinsüchtigen Partyvolks, das in der Metropole der Schlampigkeit richtig einen drauf machen will. Er vermietet eine seiner Plattenbauwohnungen an zwei drängelnde Typen, und stellt dann fest, dass ihr seniler Begleiter im Rollstuhl ein AfD-Bundestagskandidat ist, zu PR-Zwecken entführt. Mit Hilfe seines Vaters, eines Ex-Vopos, versucht Tom halbherzig das Richtige zu tun, und das Schlamassel, das daraus entsteht, endet in einem Massaker an Berlins heimlichen Touristenmagnet, auf dem Parkplatz über den Ruinen der Reichskanzlei, wo Einheimische und Auswärtige schaudernd des Hinscheidens des Führers gedenken. Dort nimmt der Titel BERLIN HEAT finsterste Bedeutung an.
Sommerliche Heiterkeit schwebt über Richard Osmans: DER DONNERSTAGSMORDCLUB. Vier Senioren stolpern aus dem Hobby der Krimi-Puzzelei ins reale Verbrechen, ohne dass sich der liebenswürdig elegante Erzählton des TV-Moderators Richard Osman wesentlich eindunkelt. Perfekte Sommerlektüre mit einer Prise schwarzem Humor.
Humor ist nicht gerade Sara Paretskys Grundstimmung. Dafür sind die Verzwicktheiten ihres zwanzigsten Romans mit der unzerstörbaren, allfürsorglichen V.I. Warshawski zu ernst. In LANDNAHME spannt sie den Bogen weit: vom Schicksal einer in Wahn und Odachlosigkeit getriebenen Musikerin, über etliche Morde am Ufer des Lake Michigan und ein rassistisch motiviertes Massaker in Kansas bis zu den neoliberalistischen Exzessen der Chicago-Boys in Chile und in Paretskys Heimatstadt. Paretsky erweist sich einmal mehr als eine nie langweilende Erzählerin komplizierter gesellschaftlicher Zusammenhänge: dem beharrlichen Detektionsblick ihrer Heldin bleibt nichts verborgen.
Weit zurück in die amerikanische Geschichte und ihre Naturkatastrophen geht das Schriftstellerpaar Beth Ann Fennelly und Tom Franklin in ihrem historischen Kriminalroman DAS MEER VON MISSISSIPPI. 1927 überschwemmte eine Jahrhundertflut den Ol‘ Man River. Im Hinterland des fiktiven Kaffs Hobnob Landing betreiben Dixie Clay und ihr Mann Jesse eine Schwarzbrennerei. Nachdem ihr Baby gestorben ist, haben sie nicht mehr viel gemeinsam. Im Sonderauftrag des späteren Präsidenten Hoover sind zwei Prohibitionsagenten auf der Suche nach dem Mörder ihrer Vorgänger. Als der eine ein verwaistes Baby findet, gibt er es Dixie Clay. Zwischen ihr und dem Agenten Ingersoll funkt es – zwischen ihnen steht das Gesetz. Doch alles ändert sich, als Saboteure die Dämme sprengen und sich der Fluss wie ein Tsunami ins Land ergießt.
Fariza Nasri, eine der vielen Ermittlerfiguren in Friedrich Anis letztem Roman ALL DIE UNBEWOHNTEN ZIMMER (2019), rückt in seinem jüngsten LETZTE EHRE ins Zentrum einer Vielzahl von Fällen von Männergewalt – mit einer Ausnahme, die im Hintergrund mitspielt und dem Roman eine überraschende Wende gibt, die auch ein Ende ist.
Die von mir seit Jahren vertretene Auffassung, Ani sei einer der besten Kriminalschriftsteller (und damit einer der besten Schriftsteller) deutscher Sprache, wird durch diesen ungeheuer vielschichtigen Roman erneut bestätigt. Er ist akkurat in der Darstellung der Polizeiarbeit, jongliert mit unterschiedlichen Handlungsebenen und Verdachtsmomenten, die alle eine Auflösung finden, erzählt vom Kosmos männlicher Gewalt und weiblichen Leidens in so vielen Schattierungen, dass einem übel werden kann. Vor allem aber findet er für all das beschriebene Lebensleid eine Sprache, die sich den gängigen allgemeinplätzigen Zuordnungen wie „traumatisiert“, „Opfer“, „Brutalität“, „Zärtlichkeit“ durch konsequente Konkretheit widersetzt: der Schmerz, das Leid sind nicht allgemein, sondern individuell.
Nur zwei Beispiele seiner Sprachkunst: Der Fachausdruck „Verhämmerung“ wird in einer gefühlt seitenlangen Autopsie unerträglich plastisch. Die Phrase vom Ermittler, der sich verpflichtet sieht, „für die Opfer zu sprechen“, steht bei Ani in Fariza Nasri eine Ermittlerfigur entgegen, die es versteht, einer im Schmerz verstummten, unendlich gequälten Frau zu helfen, ihre Stimme wiederzufinden. Genau das ist auch Anis Kunst, der auch sonst mit seiner Figur einiges gemeinsam hat, den syrischen Vater und das Aufwachsen in einer oberbayrischen Kleinstadt. Dieses mit 270 Seiten vergleichsweise kurze Buch ist reich und groß.
Die Krimibestenliste Juni ist seit Freitag, dem 4.Mai, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Bereits am Freitag morgen habe ich im Deutschlandfunk Kultur den höchsten Neueinsteiger auf der Krimibestenliste besprochen: BERLIN HEAT von Johannes Groschupf.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis