DIE KRIMIBESTENLISTE IM DEZEMBER: Vier Neue aus drei Ländern. Korea, USA, Deutschland.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen.
Jahresende! Zwölf Krimibestenlisten mit 120 guten Krimis sind 2022 wieder erschienen, davon waren 65 neu.
Die Jurymitglieder wählen schon, bald wird ausgezählt. Und am 16. Dezember, rechtzeitig für letzte Buchentscheidungen vor Weihnachten, wird sie erscheinen: DIE KRIMIBESTENLISTE 2022.
Die Auswahl der Auswahl. Nur hier. Und bei einigen befreundeten Zeitungen und Blogs.
Die Koreaner haben es mit Auftragsmördern. (Nicht nur in der Fiktion. In der Realität löst Rocketman Kim Jong Un auf diese Weise Familienprobleme.)
Auf Kim Un-sus DIE PLOTTER von 2019 bezieht sich die Autorin Gu Byeong-mo in einem Interview als Anregung für ihren Auftragskiller-Roman; ob Kim young-has sensationelle AUFZEICHNUNGEN EINES SERIENMÖRDERS von 2013 (deutsch: 2020) bei der Entstehung von FRAU MIT MESSER (Platz 2) eine Rolle gespielt hat, lässt sich nur vermuten. Ist es bei Kim Young-ha ein Auftragsmörder, der Alzheimer hat und Feind, Freund und Tochter nicht mehr unterscheiden kann, ist es bei Gu eine Frau im Rentenalter, die mit dem Verlust ihrer (Kampf-) Kraft und einem jüngeren Kontrahenten konfrontiert wird. Zugespitzt wird diese Karikatur (Auftragsmord als Geschäftsmodell in einer Gesellschaft, in der die Reichen und Mächtigen ihre Probleme durch Mord lösen) durch die Idee, dass Bewährung in diesem Business eine der wenigen Aufstiegschancen, vielleicht sogar die einzige, für Frauen aus der Armut sein kann. Gus nüchterne Sprache reduziert die Figuren auf die wesentlichen Elemente Stärke, Rachgier und Geld.
Symbol für Hornclaws – so der Name der „Schädlingsbekämpferin“ – vertrackter Situation ist ein Haufen zermatschter Pfirsiche, die sie im Kühlschrank vergessen hat, weil sie sich um wichtigere Dinge gekümmert hat als um ihre persönlichen Angelegenheiten. Auf diese Früchte spielt der koreanische Originaltitel PAGWA an.
Wieder einmal hätte man sich gewünscht, Gus kulturelle Feinheiten in einer Übersetzung aus der Originalsprache zu verfolgen, und nicht aus dem bereits übersetzten Englisch. Vielleicht hätte das auch zu einer eleganteren sprachlichen Lösung für das Personalpronomen „er*sie“ geführt, mit dem der*die ansonsten völlig gesichtslose Sekretär*in des Mörderunternehmens namens Worryfixer gekennzeichnet wird. Übersetzer aus dem Koreanischen, vereinigt Euch!
PLEASANTVILLE ist ein Stadtteil von Houston, nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden als Ort für die Schwarze Mittelstandscommunity, die sich mit wachsendem Wohlstand und Zusammenhalt immer heftiger für Bürgerrechte und kommunale Selbstbestimmung einsetzte, ein Hort der Demokraten.
Anführer war lange Zeit Sam Hathorne. In Attica Lockes PLEASANTVILLE (Platz 3), 1996, kurz vor der zweiten Wahl Clintons, hält er sich für den wahren Bürgermeister von Pleasantville und für den unverzichtbaren Strippenzieher. „Die Leute wissen nicht, was sie wollen, und noch viel weniger, was sie brauchen.“ Er schon. Sein Sohn Axel kandidiert für den Posten des Bürgermeisters für Houston. Mitten in die Vorbereitungen für die Stichwahl fällt der Mord an einer jungen Frau, der sehr schnell politisiert wird: Trotz sehr schwacher Verdachtsmomente wird der Wahlkampfmanager der Hathornes des Mordes angeklagt. Ein Störmanöver der Gegenkandidatin, der amtierenden Staatsanwältin.
In den Kampf um die möglicherweise wahlentscheidenden Stimmen von Pleasantville wird Jay Porter, Anwalt, ehemaliger Bürgerrechtsaktivist und bekannt aus Attica Lockes BLACKWATER RISING verwickelt: Er soll den verdächtigten Wahlkampfmanager verteidigen. Aus dieser schon nicht unkomplizierten Ausgangslage entwickelt Attica Locke, im Hauptberuf Producedrin und Drehbuchautorin für TV-Serien, mit professioneller Raffinesse in Figurenführung und Plot-Twisting ein ungemein spannendes Politik-Familien-Wirtschaft-Mordgeflecht. Die Verwicklungen erfordern versierte Leserinnen, aber die Lektüre lohnt sich.
Ein Erste-Klasse-Roman, zu dem Benjamin Whitmer ein Erste-Klasse-Nachwort beigetragen hat. „In den USA gibt es zu so gut wie jeder Facette des Lebens ein Gesetz, sodass es praktisch unmöglich ist, sich gesetzeskonform zu verhalten.“
Der Vergleich zwischen Attica Lockes PLEASANTVILLE (Platz 3) und Sara Paretskys SCHIEBUNG (Platz 9) lohnt sich. Hier der dritte Roman einer jüngeren Schwarzen Autorin, die selbstbewusst Rassismus und Rechtspopulismus bekämpft, weniger explizit für Frauenemanzipation. Auf der anderen Seite der 19. Roman des Weltstars und Mitbegründerin des feministischen Kriminalromans: Plot und Eleganz der Schülerin sind der Routine der Meisterin überlegen.
Was nicht heißt, dass Paretskys Vic Warshawski ein Feigling wäre und Sara Paretsky keine tolle Erzählerin. Aber in ihrer durchaus ähnlichen Verquickung von Familien- und Politkrimi hat Vic es mit einer so großen Masse von Schlachtfeldern zu tun, dass in der rasend voranpreschenden Erzählung für die einzelnen manchmal nur noch Rapports in Vics übervollem Terminkalender und ihren akkurat geführten Fallakten übrigbleiben.
Allein die Recherchen Paretskys sind eine bewundernswerte und überwältigende Leistung: zu Kreditschwindel, Wertpapierbetrug, Aktienhandel, Kunstwerken aus der mesopotamischen Kupfersteinzeit, Kunstraub, Menschen- und Mädchenhandel sowie zu den teils realen Machenschaften der Einwanderungsbehörde unter Trump.
Mein Rat: genießt und studiert sie beide, die Krimi-Epikerinnen Attica und Sara!
Johannes Groschupf, bis zu einem lebensgefährlichen Hubschrauberabsturz in der Wüste einer der besten Reisereporter deutscher Sprache, hat sich und uns in seinen bisher drei Kriminalromanen einen neuen Ort geschaffen, über den er den hellen Wahnsinn berichten kann: Berlin. Als Reisereporter findet man sprechende Geschichten und berichtet über seltsame oder bemerkenswerte Bevölkerungsgruppen oder Einzelpersonen, als Krimiautor bleibt man beim Sujet, aber übersteigert das Gefundene bis zur Kenntlichkeit. Nach Preppern, Stasinachfahren und Neonazis führt er nach Kreuzberg, ins flackernde Biotop der Sekten und Brandstifter. DIE STUNDE DER HYÄNEN ist ein Märchen voller falscher Fährten und grausiger Bösewichter, unglücklicher Menschen und ihrer Suche nach Glück. Mehr zu verraten, hieße Spoilern.
Die Krimibestenliste Dezember ist seit Freitag, dem 2. Dezember, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden. Nach und nach werden fast alle Neuerscheinungen der Krimibestenliste in Deutschlandfunk Kultur, immer am Freitag morgen gegen 8.20 Uhr, besprochen. Dort können Sie die Stimmen einiger Jurymitglieder vernehmen. Die Rezensionen sind auch online nachzulesen. Am Freitag morgen hat Katrin Doerksen den höchsten Neueinstieg in der Dezemberliste Gu Byeng-mos FRAU MIT MESSER besprochen.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im CrimeMag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und sehr oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert.
Ich wünsche Ihnen eine aufregende Lektüre und schöne Adventstage!
Ihr Tobias Gohlis