Die Krimibestenliste im November: Fünf Neue aus fünf Ländern
Disher und kein anderer: Zum dritten Mal führt der Australier Garry Disher die Krimibestenliste an, zum zweiten Mal mit dem Wyatt-Roman MODER. In jeder Leserin und jedem Leser steckt ein Möchtegern-Gangster – oder wie würden Sie diese Leidenschaft fürs Ungesetzliche erklären?
In John le Carré steckte ein Spion, der, als er aus der Kälte kam, endgültig zum Schriftsteller wurde, und zwar zu einem der größten und wirkmächtigsten des 20. Jahrhunderts. 60 Jahre nach CALL FOR THE DEAD/SCHATTEN VON GESTERN ist jetzt sein letzter, fünfundzwanzigster Roman SILVERVIEW erschienen. Aus dem Nachlass publiziert, ein beiseite gelegtes, beinahe fertiges Manuskript, das sein Sohn Nicholas Cornwell, bekannt unter seinen Schriftsteller-Pseudonymen Nick Harkaway und Aidan Truhen fertig redigiert hat. Ein letzter Roman – und ein Abschied.
Inwiefern SILVERVIEW le Carrés Abschied vom Spionageroman ist, hat Thomas Wörtche im culturmag analysiert. Mir scheint SILVERVIEW darüber hinaus ein Kassiber des alten Spions, der niemals echtes Service-Wissen preisgeben wollte, an die jüngere Generation zu sein, endlich Schluss zu machen mit einer Politik, die auf Geheimdienste angewiesen ist.
Wie ernst John le Carré es mit der Nation und Europa nahm, zeigt sich an seinem Entschluss, als irischer Staatsbürger zu sterben: Kurz vor seinem Tod hatte er in Cork, wo seine Mutter herstammte, wegen des Brexit die irische Staatsbürgerschaft angenommen.
Neben einem letzten Roman weisen wir auf ein staunenswertes Debüt hin: Elizabeth Wetmores WIR SIND DER STAUB. Wetmore ist 1968 in Odessa/ Texas geboren und hat allen angesammelten Hass, alle angesammelte Liebe, seit sie mit 18 von dort abhaute, in diese Geschichte vieler Frauen eingeschrieben, die sich aus der buchstäblich tödlichen Enge einer Machowelt zu befreien beginnen, weil sie sonst nicht leben können.
Es beginnt mit einer Szene, deren Gewalt kaum jemand vergessen wird, der dieses Buch gelesen hat. Und es wird immer schlimmer. Von all den vielen Romanen auf der Krimibestenliste, die Gewalt gegen/Selbstbefreiung von Frauen thematisierten, scheint mir WIR SIND DER STAUB der eindringlichste und stärkste.
Nach der Lektüre dieses Buches kommt einem das jüngst in Texas verabschiedete Gesetz, das Kopfgeld auf die Denunziation von Frauen setzt, die abtreiben, nicht mehr seltsam vor.
Seit Regina Nössler 2017 mit SCHLEIERWOLKEN erstmals auf der Krimibestenliste war, wird jedes neue Buch von ihr seitens der Jury mit Argusaugen gelesen. KATZBACH – nach der gleichnamigen Durchfahrtsstraße in Berlin-Kreuzberg – ist ein außerordentlich raffiniert um das eher traditionelle Motiv der Beseitigung einer Leiche herum konstruierter Roman. Protagonistin ist die Misanthropin Isabel Keppler, die sich mit prekären Jobs im Berlin von heute ihre Autonomie wahren will. Ein Muss!
DER SCHWÄRZESTE WINTER spielt in den ersten zwei Dezemberwochen 1944, als Bologna noch von Nazitruppen besetzt ist, die Resistenza den Besatzern aber bereits eine neutrale Zone in der Stadt abgerungen hat. Comandante De Luca, der eigentlich nur Verbrechen ermitteln will, ist zum schmutzigen Geschäft der politischen Polizei abgeordnet, wird aber, so Lucarellis tollkühne Konstruktion, von den drei konkurrierenden Mächten Bolognas – den Faschisten, der Resistenza und den Nazis – beauftragt, drei Morde aufzuklären. Unter anderem, weil sie sich gegenseitig nicht, wohl aber dem politisch blinden De Luca trauen. In dem sechsten Roman seiner Reihe um den unbeirrten Commissario, die in Italien sehr beliebt ist, spinnt Carlo Lucarelli die Geschichte seiner Heimatstadt in Kriegszeiten fort – diesmal mit einer Hommage an einen realen aufrechten Polizisten. Die besteht in dem Kunststück, die drei separaten Morde auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und De Luca mit dem Leben davonkommen zu lasssen.
Last but not least ist mit DIE SCHIERE WAHRHEIT von Ursula Hasler ein gewagtes Experiment zu verfolgen, das meist schief geht. Es handelt sich um einen Metakriminalroman. Darin kommen die beiden Giganten der Schweizer Kriminalliteratur Georges Simenon (der Französisch schreibende Belgier verbrachte die letzten gut dreißig Lebensjahre in der Schweiz) und Friedrich Glauser 1937 in einem französischen Badeort zusammen, räsonnieren über ihre sehr ähnlichen Poetiken der Kriminalliteratur und spinnen sich gleich einen aus.
Das gelingt der Übersetzungs- und Literaturwissenschaftlerin Hasler recht unterhaltsam und belehrend. Nur bleibt das Ausgesponnene doch ein Stück unterhalb des Niveaus dieser beiden großen Modernisierer des Kriminalromans, thematisch irgendwo in den Familien- und Erbschaftsdramen des 19. Jahrhunderts stecken. Man kann Simenon und Glauser nicht als Ermittlungstechniker behandeln. Das sind leider die meisten ihrer Nachfolgerinnen und Nachfolger, leider auch in der Schweiz.
Die Krimibestenliste November ist seit Freitag, dem 5. November, bei Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Außerdem finden Sie die aktuelle Krimibestenliste im crimemag. Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen und oft auch einzelne Bücher engagiert kommentiert. Und bereits am Freitag morgen habe ich bei Deutschlandfunk Kultur SILVERVIEW als höchsten Neueinstieg besprochen.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Ihr Tobias Gohlis