Dokufiction, Fake oder wahre Geschichte?
„Chinesen haben in der Geschichte nichts zu suchen.“
Das dekretierte die fünfte der „Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman„, die der Detection Club 1929 aufstellte. Chinesen gaben damals in populären Romanen die exotische Leerstelle für Verdächtige ab, und zwar massenhaft. Chinesen galten sprichwörtlich als nicht zuverlässig. So, wie „Alle Kreter lügen“.
Xiao Bai, ein Kreter aus Shanghai, wollte Verdächtigungen erst gar nicht aufkommen lassen. Deshalb informiert er ausführlich in seinem Nachwort zu dem Agenten- und Abenteuerroman Die Verschwörung von Shanghai über seine Recherchen im Stadtarchiv von Shanghai. Er berichtet, dort auf ein Foto gestoßen zu sein, das von einem Hsueh Weiss gemacht wurde, und das eine Therese Irxmayer zeigt. Außerdem gibt er eine Zusammenfassung der im Archiv gefundenen Akten über diese Agentin sowie andere Figuren des Romans.
Sein Roman Die Verschwörung von Shanghai (englisch: French Concession) erzählt die Geschichte einer Untergrundzelle, die Attentate gegen Repräsentanten der Kolonialherren begeht. Zu dieser kommunistischen Zelle gehört die idealistische Leng, die mit einem Attentatsopfer, dem Chef der Militärjustiz in Shanghai, verheiratet gewesen war. Der französisch-chinesische Fotograf Hsueh Weiss hat sich in sie verguckt, ist aber zugleich Liebhaber der Weißrussin Therese Irxmayer, die der kommunistischen Zelle wie auch den Gangstern der „Grünen Gang“ Waffen verkauft. Hsueh, ein Dandy und Bruder Leichtfuß operiert nicht nur zwischen den beiden Frauen, sondern auch zwischen den Fronten: Er gibt sich als Sympathiasant der Kommunisten aus, spioniert aber für die französische Kolonialpolizei. Sehr spannend, viele Figuren, sehr bunt. Ziemlich unübersichtlich und chaotisch.
Da ich dem dokumentarischen Braten, der dem Ganzen laut Xiao Bai zugrunde liegen sollte, nicht traute, stellte ich ihm – immerhin einem dem wenigen in Europa übersetzten Spannungsautoren aus China – über seinen Lektor und seinen Agenten (Dank für Unterstützung und Übersetzungshilfe!) einige Fragen zum Hintergrund des Romans.
Xiao Bai (das ist der Künstlername des 1966 geborenen und in Shanghai lebenden Autors) antwortete schnell und bmerkenswert offen:
Interview mit einem Chinesen
Lieber Xiao Bai,
Warum interessieren Sie sich für das Shanghai von 1931?
1980, als ich ein Teenager war, stammten fast alle großen Gebäude Shanghais aus den 1930er Jahren, als Shanghai die dramatischste Urbanisierungswelle seiner Geschichte erlebte. Sie wirkten, als seien sie weit vom Leben der normalen Leute entfernt. Ich war fasziniert von den in ihnen verborgenen Rätseln und Geheimnissen, die mit der Stadt und ihrer Geschichte in Verbindung stehen mussten. Als ich den Roman zu schreiben begann, reizte es mich mehr oder minder instinktiv, die Story und ihre Figuren in diese dramatische Zeit zu versetzen. 1930 ist auch das letzte Jahrzehnt der ausländischen Konzessionen in Shanghai. Es war eine besonders fazinierende Periode, die half, einige der besonders einprägsamen Figuren der Metropole zu kreieren.
Welche Bedeutung hatten die Recherchen im Stadtarchiv für die Entwicklung der Story?
Ich möchte die Skyline von Shanghai in den 30ern sehen, den Geruch in den Straßen riechen und die Geräusche hören, die ein Mann vernimmt, der nachmittags am Fenster seiner Wohnung sitzt. Ich möchte die Schmerzen der Leute von damals spüren und ihre Reaktionen auf die verschiedenen Ereignisse verstehen. Archive sind die besten Plätze, um diesen Fäden nachzugehen.
In vielen Teilen des Romans benutzte ich den Ton und den Stil der proletarischen Literatur, der chinesischen und ausländischen Presseberichte, der Tagebücher und Polizeiarchive jener Zeit.
Sind „Therese Irxmayer“, Hsueh Weiss und Leutnant Sarly (der französische Führungsoffizier Hsuehs) historische Persönlichkeiten, deren Aktivitäten in den Akten dokumentiert sind? Oder spielen Sie in Ihrer Nachbemerkung und dem Anhang mit fiktivem dokumentarischem Material?
Alle diese Figuren sind fiktiv. Aber ich entlieh ihre Namen realen Personen, die ich in den Archiven gefunden hatte. Diese Namen hatten mich so sehr beeindruckt, dass sie wieder in meinem Verstand auftauchten, als ich den Roman zu schreiben begann.
Die Akte am Ende des Buches ist fake, vollständig erfunden. Für neugierige Leser wie Sie habe ich mir einen Scherz erlaubt. Wenn Sie das (chinesisch geschriebene T.G.) Aktenzeichen mit dem „Viereckenindex“ (auf deutsch T.G.) decodieren, bekommen Sie die Antwort „It’s a joke“.
Können Sie mir eine Kopie des Fotos von Therese Irxmayer überlassen?
Ich habe kein Foto von Therese Irxmayer. Die reale Frau hinter diesem Namen fand ich in einigen Zeitungsausschnitten im Polizeiarchiv der der französischen Konzession.
Ergänzend schickte mir Xiao Bai einige Aufnahmen aus der Französischen Konzession, die ich hierin den Text eingestreut habe.
Xiao Bai: Die Verschwörung von Shanghai
aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff