Der Kriminalroman lebt davon, dass in der Realität eine Anomalie auftritt: Das Rätsel. So der französische Soziologe Luc Boltanski in seinem lesenswerten Buch Rätsel und Komplotte: Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft.
Wie aber würde eine Anomalie aussehen in einer Realität, die wesentlich virtuell ist? Konkret: Was würde jemandem als Rätsel oder als Verstörung vorkommen, der hauptsächlich per Social Media kommuniziert und quasi in ihnen lebt?
Zoe Beck hat in BRIXTON HILL die denkbar brutalste Anomalie gefunden. Die Realität bricht herein. In diesem Fall: Eine Kollegin, mit der die Eventmanagerin Em gerade verhandelt, stürzt aus dem Fenster. Jemand hat die Klimatechnik eines Büroturms an der Themse manipuliert, Rauch quillt aus der Klimaanlage, die Fluchttüren sind versperrt, Kollegin Kimmy gerät in Panik und steigt aus dem Fenster. Ausgelöst wurde die Anomalie durch eine SMS.
Em ist ein early adopter , immer vorn dran mit den neuesten Accounts und Phones. Sie hat kein Büro, sondern ein Smartphone. Auch sozial ist sie ungebunden: Männer trifft sie an den freien Tagen, wenn kein Projekt anliegt. Keine weitere Verpflichtung.
Das Spannende an Becks Krimi sind die Prüfungen, die Em ertragen muss, ein weiblicher Hiob der Facebook-Ära. Sie sieht ihren Zwillingsbruder sterben. Sie sieht sich als Opfer eines Stalkers, sie wird als Mörderin beschuldigt etc. Geprüft wird sie, vor allem aber ihre Wahrnehmung der Realität, ihr ganzes Koordinatensystem. Die vertrauten Kommunikationsplattformen Twitter, Facebook und Mail sind unterwandert, sie kann den gewohnten Kommunikationsmitteln und -wegen nicht mehr trauen – und Menschen, denen sie vertrauen könnte, kennt sie nicht. Oder die, die sie kennt, trauen ihr nicht.
Zoe Beck arrangiert Ems Suche nach denen und dem, was dahinter steckt, als langsamen Sturz die Treppe hinab. Von den Höhen virtueller Allmacht in die harte Realität.
Dazu gehört auch die Erfahrung, dass die Leichtigkeit und Vielfältigkeit der modernen Kommunikation die Illusion schürt, die Welt selbst sei leicht zu händeln. Dass dies keineswegs so ist, entdeckt Em, als sie in der eigenen Familie – wo sonst? – auf eine wahre Lady Macbeth stößt.
Wo sonst als in der Familie? Interessant, dass die Täter auch in der Fiktion dort herkommen, wo sie in der völlig anderen Realität der Kriminalstatistiken meist sind.
Beck ist nicht die erste Autorin, die Crime im Cyberspace spielen lässt. Doch bei ihr ist die virtuelle Realität nicht der Quell des Unheimlichen, in dem sich Wahnsinnige mit wahnsinnigen Ideen herumtreiben. Die Cyberwelt ist gewohntes, friedliches Umfeld, Zuhause. Der Wahnsinn tobt dort, wo die Menschen sind: im Off.
Zoe Beck: Brixton Hill
Heyne, 384 Seiten
KrimiZeit-Bestenliste Januar 2014