Karsten Stegemanns Remake von Ray Bradburys „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ scheitert am Gefälle
Remakes sind heikle Unternehmungen. Sie zehren von Ruhm und Qualität der neu interpretierten Vorbilder und werden zwangsläufig an ihnen gemessen.
Einer kleinen Nachbemerkung Karsten Stegemanns (und dem Hinweis des Verlages) hatte ich entnommen, dass sein eben erschienener Roman NIEWETOW ein Remake von Ray Bradburys DER TOD IST EIN EINSAMES GESCHÄFT ist und habe Bradburys wundersam zwischen Nebel, Melancholie und Einsamkeit changierende Mystery Novel über das Ende von Venice und der großen Träume der Stummfilmzeit zuerst gelesen.
Man mag es ungerecht finden, aber das Einzige, was ich an Karsten Stegemanns NIEWETOW finden kann, und wofür ich ihm ernsthaft dankbar bin, ist, dass er mich auf das Vorbild gestoßen hat.
Dass NIEWETOW auf den Bradburys Vorlage anscheinend nicht einbeziehenden Leser faszinierend wirken kann, zeigt Thomas Wörtches Begeisterung: „Was Stegemann da abzieht, ist eine subtil gemachte Horrorshow, bei der lange auf der Kippe steht, ob es nun einen Mörder gibt oder nicht oder was da überhaupt passiert. Der eine Staat ist weg, der andere Staat ist noch nicht richtig angekommen – in dem Vakuum tummelt sich das Grauen, das Unheimliche, in einem Suspense-Szenario vom Feinsten.“
Ich stimme zu. Mit Ausnahme des Staatswechsels, der darin nicht vorkommt, trifft Wörtches Lob uneingeschränkt auf Bradburys Roman zu. 1985, als Bradbury 65 war, erinnerte er sich an seine Anfänge als noch kaum veröffentlichter Schriftsteller und fand seine Situation gespiegelt in den (alb-) traumhaften Erinnerungen an den Untergang der damals noch nicht zu Los Angeles gehörenden Kleinstadt Venice. In deren Gärten sich die Ölförderpumpen „ächzend hoben und senkten, wundervolle Haustiere, die einem ein angenehmes Leben sicherten.“ Und deren Pier, Ort unschuldiger Vergnügen, von saurierähnlichen Baggern zerrissen und zerschmettert wurde und in deren ölversuchten Kanälen Zirkuswagen und Löwenkäfige und darin die Leichen einsamer Menschen verrotteten.
Stegemanns Adaption folgt mit einigen Ausnahmen, die sich der Verschiebung von Zeit und Ort (von Venice, California, nach „Niewetow“ an der Ostsee in der Gegend von Rostock, von 1949 nach 199?) verdanken, der Vorlage Wort für Wort, ist um die Hälfte knapper und hat betrüblicherweise deren überwältigenden Charme fast vollständig verloren. Aus dem unsicheren, empfindsamen Schriftsteller, der an den epochalen MARS-CHRONIKEN schreibt, ist ein Reporter geworden, der über eine „verkaufte Armee“ recherchiert, und aus dem Untergang großer Film- und Lebensträume der Verlust von Werftarbeitsplätzen. Respekt vor Stegemanns Wagemut, sich auf dieses Gefälle einzulassen. Aber Nebel ist nicht gleich Nebel, und Venice, California, nicht gleich Niewetow an der Ostsee, Ex-DDR.
Das Gefälle verursacht stilistische Stürze. Ein Beispiel. Bradbury lässt sein namenloses junges Ich mit allem verfügbaren Anfängerstolz erklären: “Meine ganze Arbeit besteht darin, mich am Morgen in die Schreibmaschine zu übergeben und das, was dabei herauskommt, am Mittag zu überarbeiten.“ Bei Stegemann verfügt Daniel Brandenburg (Bradbury!) gerade mal über Ratgeberjargon: „Zuallererst lasse ich mich beim Schreiben von meiner Intuition leiten, das Denken kommt später.“
Kurz: Alles, was in NIEWETOW phantastisch, im besten Sinne mysteriös, in poetischer Schwebe (wie die wunderbaren Schlusssätze „‘Lasst euch vom Blinden zeigen, wo es langgeht!‘ Er schritt uns voraus. Wir folgten.“) ist, ist von Bradbury, alles, was flacher, trister ist, stammt von Stegemann. Ich könnte, aus Enttäuschung blind, weiter wettern, über verschüttete Ideen, über banalisierte Einfälle (aus Bradburys Schauspieler, der in Stummfilmen deutsche Knobelbechermilitärs dargestellt hat, wird ein Volksarmist!). Aber ich höre auf zu wettern und folge dem ersten Blinden.
Am 22. August 2020 wäre Ray Bradbury 100 Jahre alt geworden.
Karsten Stegemann: Niewetow
Edition Nautilus, 176 Seiten
Ray Bradbury: Der Tod ist ein einsames Geschäft
Aus dem Englischen von Jürgen Bauer
Diogenes, 382 Seiten