Stanisław Lems DER SCHNUPFEN – ein erkenntnistheoretischer Kriminalroman.
Gegen Ende seines Lebens formulierte Stanisław Lem, der Philosoph unter den Science-Fiction-Autoren, immer nachdrücklicher die Einsicht, dass der Mensch für ein Leben im Weltraum nicht geeignet sei: „Der Mensch eignet sich nur zum Leben auf der irdischen Oberfläche.“ Die Bedingungen im Weltraum seien gegen ihn. Er altere schnell, verliere Muskulatur. „Außerhalb der Erde sind wir halbe Krüppel,“ erklärte er 2005 in einem Interview der ZEIT.
Daher ist es sehr verwunderlich, dass er nur zwei Romane verfasst hat, die gänzlich dort spielen, wo der Mensch Mensch ist, auf der Erde.
Grenzgängererfahrungen
Seine Themen waren „Fragen der kausalen Ursachen des Lebens, des Bewusstseins und des Todes, Fragen nach den Grenzen dessen, was wir zu tun vermögen, und nach der Formbarkeit der Intelligenz.“ Und diesen Fragestellungen ging jemand, der in Polen unter Zensur lebte, nun einmal besser im Weltraum nach. Und so wurde aus dem studierten Mediziner und vielseitig gebildeten Kenner der Kybernetik, Physik, Biologie, Philosophie, Mathematik und Psychologie der Stanisław Lem der „Sterntagebücher“ und anderer ebenso spekulativer wie sinnlicher Weltraumabenteuer, dessen Werke in 57 Sprachen übersetzt wurden und in einer Auflage von über 45 Millionen Exemplaren erschienen sind.
Ihm verdanken wir grandiose Grenzgängerfiguren wie den Weltraum-Münchhausen Ijon Tichy und den Kosmos-Schweijk Pirx, die ihre Existenz der dreifachen Begabung Lems zu wissenschaftlich validierter Fiktion, skeptischer Beobachtungsgabe und (manchmal kalauerhaft) brachialem Humor verdanken.
Lem kannte sich nicht nur mit den allerneuesten Weiterentwicklungen der Relativitätstheorie aus, sondern dachte sie bis zur letzten praktischen Konsequenz durch. Lem war eben auch der Mechaniker, der während der deutschen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg so lange an den Nazi-Fahrzeugen schraubte, bis niemand herausfinden konnte, warum sie nicht fuhren.
Wer hat die Tücken der Krümmung von Raum und Zeit besser beschrieben als Lem mit Tichys irrsinniger siebter Sternenreise? Da gerät der arme Mann in eine Zeitschleife, die ihn bei jeder Umrundung kopiert. So muss er, statt sich befreien zu können, von Mal zu Mal gegen noch mehr Verkörperungen seiner selbst und damit der bereits von ihm gemachten Fehler kämpfen. Und wer erinnert sich nicht an den denkenden Ozean auf dem Planeten Solaris, der den dort gelandeten Astronauten ihre Ängste und Gedanken zurückspiegelt, statt sich brav erforschen zu lassen? Für Lem war das Weltall bestimmt kein „Asyl für schwachsinnige Literaten“, wie er höhnte, sondern für geistreiche und komplexe Erkundungen der Grenzen menschlichen Erkennens, Erfahrens und Wissens.
Stanisław Lem maß der Literatur bei diesen Erkundungen eine besondere Rolle zu, darin war er ganz Romantiker. Zwar las der 1921 geborene Autor sein Leben lang – und im Alter immer mehr – wissenschaftliche Literatur und korrespondierte mit den Koryphäen aller Forschungszweige, um seine Gedankenspiele bestens zu fundieren. Aber als jemand, der nicht glaubte und trotzdem von der Kraft des Glaubens überzeugt war, als jemand, der genau wusste, wie der Körper denkt und deshalb sogar mit bewusstseinserweiternden Drogen wie Psilocybin experimentierte, wusste er, dass eine Erkundung aller Grenzen des Bewusstseins nur mit künstlerischen, imaginativen Mitteln möglich ist.
Der Vorauserfinder
Dass er selbst in hohem Maße jene „Kombinationsgabe“ besaß, „aus der Masse der Fakten das Wesentliche herauszufinden“, die der Ich-Erzähler des „Schnupfens“ bei seinen Gesprächspartnern vermisst, bewies Lem nicht zuletzt mit dem Vorauserfinden ganzer technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen. Das Internet, künstliche Intelligenz, Nanotechnologie (inklusive Nanowaffen), Robotik hat er vorausgedacht. Sein literarisches und essayistisches Werk strotzt vor Themen, die bis heute (oder erst heute) virulent sind: Massenarbeitslosigkeit durch digitalisierte Automatisierung, Cyberkriminalität in allen Formen, Artensterben etc. Als Stanisław Lem 2006 mit 84 Jahren starb, hatte er lange Zeit zurückgezogen in Krakau gelebt. In seinem letzten Interview prognostizierte der Skeptiker einen Nuklearkrieg und machte sich Sorgen über das deutsche Staatsdefizit.
Die Untersuchung – ein Antikrimi
Die Kriminalliteratur verdankt ihm zwei spekulative Romane, „Die Untersuchung“ von 1959 und „Der Schnupfen“ von 1976. Der erste tarnt sich als englischer Krimi aus der Epoche des Goldenen Zeitalters. Doch schon der „Fall“ ist mehr als rätselhaft. Es geht um Leichen wie meistens in Kriminalromanen, hier aber nicht darum, wie sie ins Leichenschauhaus hineingekommen, sondern wie sie daraus verschwunden sind.
Detektiv Gregory streitet sich mit einem Statistiker über die Kausalitäten, die ihren Abgang erklären könnten. Doch auch die höhere Mathematik kann nicht dienen, weshalb den Ermittler grundsätzlicher Zweifel befällt: Was wäre, wenn die Welt nicht „ein vor uns verstreutes Puzzlespiel ist [das man rekonstruieren kann, TG], sondern lediglich eine Suppe, in der chaotisch Stücke herumschwimmen, die von Zeit zu Zeit rein zufällig zu einem Ganzen zusammenkleben?“ „Die Untersuchung“ entwickelt sich zum Anti-Krimi: Nicht die Ordnung wird am Ende wiederhergestellt, sondern das Chaos begriffen. Nicht das Gesetz wird befolgt, sondern die Existenz von Gesetzmäßigkeiten, die erkennbar sind, bezweifelt.
Lem selbst war mit der „Untersuchung“ nicht recht zufrieden: „Das Ende bricht einfach mit dieser literarischen Gattung und wirkt zu herablassend; hier wird eine relativierende Philosophie aufgepfropft, die demonstriert, dass es so, aber auch anders sein könnte. ‚Der Schnupfen‘ ist besser, weil glaubhaft. Ich bin selber bereit, ihm Glauben zu schenken.“
Der Schnupfen
Stanisław Lem ließ selten von einem Thema ab, das ihn beschäftigte. Deshalb nimmt er siebzehn Jahre später in „Der Schnupfen“ die erkenntnistheoretischen Fragestellungen wieder auf. Und zwar, indem er sie um den subjektiven Faktor, den Detektiv, erweitert und zuspitzt. In seinem autobiographischen Roman „Das hohe Schloss“, der so wenig autobiographisch ist wie seine Kriminalromane klassische Rätselkrimis sind, deutet Lem die Richtung an, wie er die diversen Zufälle seines Lebens verstehen kann:
„Erst (…) nachträglich, wie ein Detektiv, der den Spuren des Verbrechens folgt, das im Ordnen dessen besteht, was überhaupt nicht geordnet war und auch nicht in meine Richtung wies – erst jetzt sehe ich in dem Ganzen jenen auf mich weisenden Pfeil.“
Es ist also doch möglich, Ordnung oder besser Sinn in eine Menge Daten zu bringen, aber es ist keine objektive, allseits nachvollziehbare, sondern eine subjektive, die letztlich nur für den gilt, der sie rekonstruiert hat.
Elf Wutanfälle
Diese Idee scheint Grundlage der neuen Methode zu sein, mit der die Detektiv-Agentur Elgin & Thorn die Fälle der Personen aufklären will, die sich in der Nähe von Neapel umgebracht haben. Elf männliche Ausländer sind nach Wutausbrüchen und Halluzinationen verschwunden. Ihre gemeinsamen Merkmale: Jeder war „um die Fünfzig(…), groß gewachsen, von pyknischem oder athletischem Körperbau. Junggeselle oder Witwer, auf jeden Fall in Neapel ein einsamer Mensch“, sie hatten Schwefelbäder genommen, waren nicht zuckerkrank und konnten kein Italienisch. Es sieht aus, aus als seien sie Opfer eines typischen „Verbrechens unserer Zeit“ geworden, „das zugleich beabsichtigt und schicksalhaft ist.“ Schicksalhaft meint, dass die Opfer nicht aus Feindschaft oder Hass in den Tod, meist Selbstmord, getrieben wurden, sondern aufgrund zufälliger Eigenschaften (etwa der, Jude oder Sinti zu sein, was Lem aber so nicht explizit sagt).
Durchhalten bei dauerhafter Verunsicherung
Der Ich-Erzähler, ein ehemaliger Astronaut, vollzieht in einer von ferne abgedeckten und überwachten „Simulationsaktion“ die Aktivitäten des Opfers Adams nach, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf die Art des vermuteten Angriffs und die Identität des dahinter stehenden Angreifers zu erhalten. Der Pfeil der Erkenntnis ist in Bewegung, doch er erkennt nichts. Das Ich ist auf sich gestellt, abgesehen von den bei der Hitze schlecht haltenden Elektroden der Körpermonitore. Faszinierend, wie es Lem gelingt, die Folgen dieser Isolation sprachlich nachzuzeichnen.
Das Ich des Detektivs, von dem wir später erfahren, dass er ein Astronaut mit Heuschnupfen ist, erlebt seine Umwelt als einen unscharf abgespielten Film, bei dem alle Bildsignale gleich bedeutsam oder unbedeutsam sind – Durchhalten bei dauerhafter Verunsicherung ist seine Leistung.
Kollektive Ängste
Aber sie führt zu keinem Ergebnis. Statt Daten zu sichern, muss der Astronaut sich mit den Zumutungen der Gegenwart auseinandersetzen. Als ein futuristischer Buster Keaton vereitelt er auf dem satirisch überzeichneten supermodernen Sicherheitsterminal des römischen Flughafens einen terroristischen Anschlag. Vorbild dieser Bedrohung war der Angriff der Japanischen Roten Armee Fraktion auf den israelischen Flughafen Lod 1972 – den zeitgenössischen Lesern Lems noch im Gedächtnis. Lem verzeichnet in amüsierter Überspitzung den Kanon der damaligen Ängste und Aufreger: Terrorismus, Feminismus, biochemische Fallen. Geradezu prophetisch sind die Zeitdiagnosen: „Europa hatte die Krise nur wirtschaftlich überstanden. Die Prosperity war zurückgekehrt, aber ohne ein gutes Selbstgefühl.“ Oder: „Es entsteht ein globales Dorf, aber halbiert. Die ärmere Hälfte leidet, die reichere aber importiert diese Leiden durch das Fernsehen und bemitleidet die andere von ferne. Man weiß schon, dass es so nicht weitergehen kann, aber es ist immer noch so.“
Lem mokiert sich über „öffentliche Hochzeitsnächte“ und sieht die Antiterrortaktik von 2010 folgende voraus: „Gegen den extremistischen Terror gibt es kein wirksames Mittel außer der präventiven Liquidierung der Aktivisten. Den direkten prophylaktischen Mord wird sich die Demokratie nicht erlauben, sie kann jedoch ein Auge schließen bei regierungsfreundlichem Meuchelmord mit beschränkter Haftung unter diskreter indirekter Aufsicht. Das ist nicht mehr der alte Fememord und keine Repression unter dem Firmenzeichen des Staats, sondern konstruktiver Terror per procura.“
Gewisse didaktische Absichten sind unverkennbar. Auch die Zusammenkunft französischer Wissenschaftler unter Ägide des Kybernetikers Dr. Barth, der vielleicht mit Hilfe seines Computers imstande sein wird, den verstreuten Informationen einen Sinn zu geben, führt nicht weiter als in erkenntnistheoretische Aporien. Kriminalistische Verfahren, die heute noch als Steine der Weisen diskutiert werden wie Police Computing und Erfassung individualisierter Opfermerkmale werden erörtert und verworfen. Aus heutiger Sicht noch komischer als damals ist die Pointe mit dem Computer: Er hat genützt, obwohl und weil er gar nicht eingeschaltet wurde. Der Ruf nach „mehr Daten“ (heute: Big data) ist sinnlos.
Erkenntnistheoretisches Rätsel
„Der Schnupfen“ ist weniger ein kriminalistisches als ein erkenntnistheoretisches Rätsel. Stanisław Lem erklärte : „Ich hatte schon immer eine manische Beziehung dazu, was Unvorhergesehenes, was Koinzidenz, blinder Zufall oder Schicksal bewirken können.“ Und so soll es das Gesetz der großen Zahl sein, das letztlich hinter allem und auch der extrem zufälligen Auflösung steckt. Der skurrile Saussure (wie fast alle Figuren ist er nach einem Wissenschaftler benannt) erklärt es zum Schluss so, dass es klein Hänschen versteht: Die Chance, dass man aus großer Entfernung einen Fliegenschiss auf einer Briefmarke trifft, wächst nicht mit der Qualität, sondern mit der Zahl der Schützen. Unter tausenden muss ein Treffer sein. Der Joke, den Saussure und Lem verschweigen ist nur, dass schon lange vor dem Treffer von der Briefmarke und dem Fliegenschiss nichts mehr übrig ist.
Ichauflösung
Doch vor dieser abschließenden Ernüchterung durchlebt der Astronaut mit den vielen Namen eine der stärksten Szenen, die je über Ichauflösung unter Halluzinogenen geschrieben wurde. Für diesen krönenden Kampf des Ich-Detektivs mit sich selbst und mit der ihn überwältigenden Materie sollte man „Den Schnupfen“ noch einmal von vorne bis hinten durchlesen. Dann würde man auch verstehen, warum Astronauten die besten Detektive sind.
Dieser Text ist 2015 etwas gekürzt als Nachwort zur Ausgabe des SCHNUPFENS in der ZEIT-Bibliothek der verschwundenen Bücher erschienen.