Nachwort zu Jerome Charyn DAS ISAAC-QUARTETT
Blue Eyes, 1974. Marilyn the Wild, 1976. Patrick Silver, 1976. Secret Isaac, 1978. Vier Bücher, die die Welt der Kriminalliteratur veränderten. Nach Deutschland kamen sie mit sieben (Secret Isaac) bis neun Jahren (Blue Eyes) Verspätung. Später, 2002, wurden sie vom amerikanischen Verleger zum Isaac-Quartett zusammengefasst, und jetzt liegen sie wieder frisch gepackt auf Deutsch vor. 30 Jahre, nachdem Isaac der Mutige, Itzig Isaac, Isaac der Prachtjunge, Isaac der Penner, Isaac der Gerechte, Isaac der Tapfere, der Bär, der Superbulle, der singende Polizist, Isaac der Reine und wie die Blüten seiner Schönheit noch benannt sein mögen, sein wildes literarisches Leben begonnen hat. Und wirken frisch und fremd wie am ersten Tag.
Coen ist eine tragische Figur: Er kann mit Messer und Gabel umgehen
Isaac Sidel ist schon fertig, als er auf die Welt kommt.
So fertig, dass von ihm erst einmal gar nicht die Rede ist, sondern von seinem Liebling. Von Manfred Coen, 29, Detective First Grade, goldenes Polizeiabzeichen, dem Tode geweiht.
Coen hat blaue Augen. ein polnischer Jude. Blaue Augen hat er wie Feuerwehrmann Dan O’Brien, der Charyns Onkel in den vierziger Jahren aus dem brennenden Luxor-Kino rettete. Dan O’Brien war eines der ersten Idole des kleinen Jerome: „Kein Rauch der Welt konnte seinen blauen Augen etwas anhaben oder sein Lächeln verdüstern.“ (1) Ire, Pole, Jude, blaue Augen – der erwachsene Autor Charyn, mixt die Ingredienzien wie ein Kind. Farbenprächtig soll das Bild sein, sinnhaft und gefallen.
Manfred Coen ist ein besonderer Bulle. Ein schöner Mann. „Er durfte Filmsternchen begleiten, die von irgendeinem Freak aus Manhattan bedroht worden waren. (…) Er war der Wunderknabe der Abteilung.“ (2) Durch seinen Bruder Harvey, der Detective First Grade beim NYPD war, hatte Jerome Charyn Polizisten kennengelernt, die ganz anders waren als Manfred Coen. Linkisch, unbeholfen. Charyn: „Sie sind superschlau, in einem sehr sehr schmalen Bereich. Bei Mord und Verbrechen kennen sie sich aus. Aber sonst haben sie von nichts eine Ahnung. Ich erinnere mich, dass wir mit fünf der sechs wichtigsten Detectives im Restaurant saßen, in New York, und sie hatten Angst vor der Bedienung. Sie wussten nicht, wie man bestellt.“ (3) Einem anderen Autor hätte diese Beobachtung genügt. Nicht Charyn. Er ändert die Perspektive: Erst ein Detective, der wie Coen mit Messer und Gabel umgehen und Filmstars begleiten kann, ist eine tragische Figur. Erst durch ihn kommt die Traurigkeit, die Charyn bei den Kollegen seines Bruders beobachtet hat, literarisch Kraft.
„Blue Eyes war schon lange, bevor er getötet wurde, ein Geist. Sein Vater und seine Mutter hatten sich umgebracht, und Coen war eine Waise von ‚Musik und Kunst‘, der irgendwie zwischen Marilyn und Isaac gefallen und nie mehr richtig aufgestanden war. Seine Anwesenheit, tot oder lebendig, schien die Kraft der vier Bücher auszumachen,“ (4) resümiert Charyn im Vorwort zu seinem Isaac-Quartett.
Wenn es wahr ist, dass ein Mythos zeitlos ist, tut ein Autor gut daran, ein paar Geister zu schaffen, die darin als Energiequellen wirken.
Referenzsystem Odessa
Eine Geschichte aus Odessa. Der Schriftsteller Isaak Babel sucht Reb Arje Leib auf. Er will herausbekommen, warum es dem Verbrecher Benja Krik gelungen ist, berühmt zu werden und „die Spitze der Strickleiter zu erreichen“. Der Reb schweigt lange. Dann erzählt er, dass Benja Krik einen Vater hatte, der nur an zwei Dinge dachte: an Wodka und wem er in die Fresse hauen konnte. Benja möchte leben, aber zwanzig Mal am Tag zwingt der Vater ihn zu sterben. „Was hätten Sie an Stelle von Benja Krik getan?“, fragt der Reb den Schriftsteller. „Sie hätten nichts getan. Und er hat etwas getan. Deshalb ist er der König, und Sie schwätzen klug daher.“ (5)
Der jüdische Verbrecher Benja Krik und das Moldawankaviertel von Odessa werden Teil von Charyns Referenzsystem in den vier Romanen sein, die an das Sidel-Quartett anschließen, im Odessa-Quartett. Die Anekdote aus den Odessa-Erzählungen Isaak Babels wirft ein doppeltes Licht auf Charyns Sidel-Romane.
Jüdische Verbrecherkönige
Der jüdische Verbrecherkönig ist eine Gestalt, die heute beinahe vergessen ist. Aber im New York der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war er sehr real. New York wurde von jüdischen Gangstern beherrscht. Arnold Rothstein, Abe Reles, Louis Lepke Buchalter, Bugsy Siegel und Meyer Lansky waren bewunderte Helden. Die zweite Generation jüdischer Einwanderer, die bereits in den Staaten geboren war, sah sie als Heroen eines harten, schnellen, gewalttätigen Weges zur Erfüllung des amerikanischen Traums. (6) Jerome Charyn, 1937 in der Bronx geboren, wuchs im Schatten Meyer Lanskys auf. Seine Mutter gab Karten in einem seiner illegalen Pokerclubs und Charyn selbst hat als kindlicher Schutzgelderpresser für ein konkurrierendes Unternehmen gearbeitet. So stellt er es in seinen autobiographischen Romanen dar, mit dem Zusatz, manche Figuren, Orte und Geschehnisse seien „Neuschöpfungen der Phantasie“. Jüdische Gangster (und Filmstars) bevölkerten den mythischen Horizont des Heranwachsenden. Das jüdische Gangsterwesen verschwand während des Krieges, nicht so sehr, weil die Staatsanwaltschaft so effektiv war, sondern weil der Gangster ein Entwicklungsschritt zum erfolgreichen integrierten jüdischen Businessman war. Das Vorbild der Rothschilds war durchschlagender als das Rothsteins. Die jüdischen Gangster sind nur deshalb nicht vollständig aus der populären Erinnerung gelöscht, weil sie einen Typus wehrhafter Juden verkörperten. Nach dem Holocaust tat es gut, sich an Juden zu erinnern, die ihr Schicksal bewaffnet selbst in Hand nahmen und keine Opfer waren. Eine Wurzel von Charyns Erzählen sind Gangstergeschichten – Melodramen über jüdische Tatmenschen.
Schluss mit der Klugschwätzerei
Benja Krik als der Mann, der „etwas getan hat“ – das hat auch eine sehr persönliche Komponente: Charyns Vater ähnelte dem Vater Benja Kriks. Seine Schermut war unheilbar. Er trat zwar wie ein US-Gentleman auf, beherrschte aber bis zu seinem Tode die amerikanische Sprache kaum, trank und schlug Frau und Kinder. Als Kind war er von seinen ausreisenden Eltern, so erzählt es Charyn, wegen einer Bindehautentzündung allein in Polen zurückgelassen worden. Später musste der Jugendliche die Einreiseprozeduren auf Ellis Island allein durchstehen, ohne ein Wort zu begreifen. Ein Schock, den er nie überwand. Sein Sohn Jerome Charyn musste also, wollte er leben, selbst ein Mann werden, der etwas tat. Er lernte es auf der Straße, und irgendwann war der Augenblick der Rückbesinnung auf diese Erfahrung gekommen. Im Vorwort zum Isaac-Quartett berichtet er, wie er den Krimi entdeckte, als Ausweg aus einem Romanprojekt, das nicht rund werden wollte. Um mit Isaak Babel zu sprechen: Charyn machte Schluss mit der Klugschwätzerei. Und erfand einen Gangster, wie es (beinahe) noch keinen gegeben hat: einen Superbullen. Denn das ist Charyns Clou: zu einer Zeit, in der in der Kriminalliteratur um ihn herum gerade erst die Realität der Polizeikorruption als neue Scheidelinie zwischen guten und Bösen Thema wurde, schuf er mit Isaac Sidel einen Cop, der Verbrecher und Polizist in einem war, einen Mann eigenen Gesetzes und eigener Moral.
Sidel ist die Summe und mehr als die Summe aller Polizisten und Detektive, die es je gab. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, all die Vorbilder, die in der Figur des Isaac Sidel amalgamiert sind, aufzuspüren. Einer jedenfalls muss Pate gestanden haben: François Eugène Vidocq, Räuber, Dieb, Begründer der Sûreté, Geheimagent und – Überlebenskünstler (1775 – 1857). Von ihm hat Sidel die Neigung zur Verkleidung übernommen. Oder war doch Harun al Raschid das Vorbild für Sidel den Penner?
Sidel, menschlich und eifersüchtig wie Gott
Isaac Sidel ist bereits fertig, ein Mann Ende vierzig, als er die Bühne betritt. Zu Beginn, in Blue Eyes ist er Deputy Chief Inspector, also schon ein hochrangiger Offizier. In Secret Isaac ist er Polizeipräsident, Police Commissioner, und am Ende des zehnten Romans Citizen Sidel hat er es zum Vizepräsidenten der USA gebracht und wird bereits als „Mr President“ angesprochen. Fans wie Pieke Biermann (7) spekulieren, ob er im bisher noch nicht veröffentlichten elften Roman Papst wird – selbst Gott ist als Apotheose Sidels nicht ausgeschlossen.
Denn so menschlich wie Gott ist Isaac allemal, und so eifersüchtig auch. Das ist ein Erzählstrang des Isaac-Quartetts: Mit zerstörerischer Eifersucht, wie der Gott der jüdischen und christlichen Bibel, verfolgt Sidel seine Tochter Marilyn, die ihn bis aufs Blut provoziert, indem sie einen Mann (Ersatzvater und Ersatzgott) nach dem anderen anbetet und heiratet. Wie Der Herr seinem auserwählten Volk versucht Isaac der Tochter die Vielgötterei auszutreiben, phantasiert wie ein Macho-Zeus davon, sie mit seinem Sperma zu beträufeln. Manfred Coen muss auf der Strecke bleiben. Sidel schickt ihn wie der der ehebrecherische König David den Hauptmann Uria an die vorderste Front in den Tod.
Sidel, der Fremdling
Sidels „Karriere“ ist keine Folge innerer Reifung, Charyns Zyklus ist kein Entwicklungsroman. Sidel bleibt immer derselbe Straßenjunge aus der Bronx. In beinahe jedem Roman durchleidet er das gleiche Schicksal: Er verwickelt sich in einen (meist privaten) wahnhaften Feldzug, stürzt, wird erniedrigt, taucht unter, um am Ende umso strahlender rehabilitiert zu werden – und ist einsamer denn je. Sidel ist ein Komet, ein Wundermann. Seine Figur ist umlodert von messianischen Sehnsuchts- und Erlösungshoffnungen, entstanden aus zweierlei Projektion. Zum einen ist er der strahlende erfolgreiche Tatmann, der Eroberer des verheißenen Landes, dessen Glanz auf die ganze Einwanderergemeinde fällt, ein Mann des Volkes und Liebling der Medien. Zum anderen ist er der moderne Hofjude, ein nützlicher Clown, der mit seiner Skrupellosigkeit, Gerissenheit und Ungeschütztheit den tumben Machern aus Politik, Verbrechen und Geld wie gerufen kommt, unter anderem, weil er ohne Hausmacht jederzeit gefeuert werden kann. Sidel ist König von New York – und angeschissen wie keiner.
Isaac teilt nämlich nur die erste Hälfte der göttlichen Verheißung mit seinem biblischen Namensvetter, dem Erzvater Isaak. „Bleibe als Fremdling in diesem Lande, und ich will mit dir sein und dich segnen“, heißt es in der Genesis. Aber Isaac Sidel, der Cop, hat keine Nachkommen, denen Gott das gelobte Land New York wie versprochen übereignen kann. Marilyn, die wilde Tochter, ist unfruchtbar. Seine irische Ehefrau „Kathleen konnte Isaac nicht ausstehen“. Sie lebt getrennt von ihm im Immobilien- und Rentnerparadies der New Yorker Juden, wo sie „mit all den Eigentumswohnungen, die sie in den Sümpfen rund um Miami gebaut hatte, langsam zur Kaiserin von Florida aufstieg.“ (8) So einsam ist Sidel, dass die Suche nach Waisenkindern, die er hätscheln und füttern, aufziehen und beschützen kann, zu einem der stärksten Motive seiner ungeheuren Aktivitäten wird. Oft mischt sich die Sehnsucht nach einem Kind mit der nach einer Frau, man erinnere sich nur an seinen amour fou zu Annie Powell, der geschändeten Kindfrau, und der Liebe zur verheiratet unerreichbaren Jennifer, der er ein für ihn unerreichbares Kind macht, in Secret Isaac.
Zum Schluss, als er das Terrain bereinigt und St. Patricks und seiner irischen Polizisten scheinbar ewig währende Macht über die New Yorker Polizei gebrochen hat, auf dem Höhepunkt des Erfolgs, am Grab seiner Feinde, gebiert ihm der Wurm, den er seit Coens Tod in sich trägt, tote Zwillinge: „Einen Zigeuner und einen blonden Juden. Baby Dermott und Baby Coen.“ (9)
Sidel ist König von New York
Charyn tänzelt (wie oft „tanzen“ seine Helden!) in den Sidel-Romanen Räume ab. Im Isaac-Quartett ist es das New York der jüdischen Einwanderer, das New York seiner Familie, Sidel ist ganz Bulle. Im Odessa-Quartett tänzelt er durch das politisch-soziale New York zwischen Stadtverwaltung, US-Regierung und italienischer Mafia. Es ist die Ära Ed Kochs, des legendären jüdischen Bürgermeisters von New York. Sidel wird als pink commish, als politischer Zivilbeamter ohne direkte Befehlsgewalt, König von New York.
Im Isaac-Quartett entledigt sich Sidel seiner Familie. Er tut dies auf Bullen-Art, durch martialische Manipulation und abschreckende Gefühlsverhärtung, in einem Prozess, der so naturhaft verläuft, dass er ihn nicht versteht. Daraus erwächst der Kampf gegen seinen Dämonen-Wurm (ein wunderbares, ungeheures, sich in alle Erzählrichtungen windendes Bild für die Gewissensnot und Selbstquälerei Sidels) um eine Wunschfamilie, die er fortwährend aufbaut und zerstört.
Er entledigt sich auch seiner innigen Feinde, zunächst der Guzmanns und dann der irischen Vorherrschaft in der New Yorker Polizeitruppe.
Irentruppe
Die Polizei New Yorks war bis in die achtziger Jahre eine Angelegenheit der Iren. Die Juden spielten kaum eine Rolle. In einem Aufsatz zu „350 Jahren Juden in der Strafverfolgung“ (10) aus dem Jahre 2004 nennt Charyn Fakten. 1000 bis 1200 Juden arbeiteten damals für die New Yorker Polizei, eine verschwindende Minderheit unter 36.000 Beamten. Nur wenige stachen hervor. Allen voran „Albert Seedman, der erste, letzte und einzige jüdische chief of detectives. Es sind die siebziger Jahre, und Chief Seedman ist überall, grob, aufdringlich und vulgär, ständig Zigarre paffend, immer an den Tatorten spektakulärer Verbrechen präsent. Er wirkte irischer als die Iren, als hätte er ihr Territorium hinzugewonnen, ihre Sprache, ihren Herrschaftsbereich.“ Abgesehen von der Zigarre könnte das eine ganz gute Beschreibung Sidels sein, der jederzeit auch den Iren geben kann. Aber Charyn betont, Chief Seedman (11) habe als Vorbild für eine andere Figur, für Barney „Cowboy“ Rosenblatt gedient, der angetan mit Heizunterwäche und geschützt von 3000 Detectives auf Verbrecherjagd geht, wo Sidel ein Pennermantel reicht. (12) Seedman “ war der jüdische Goliath, der über eine Armee von Iren hinwegzuschreiten schien“ – und das ist dann der Unterschied zu Sidel. Goliath ist Sidel nie, denn sein zweiter Name ist Hiob, verspottet von der einzigen Tochter. Das hindert ihn nicht, die irische Vorherrschaft an einem gelben See zu brechen. Den korrupten Chief Inspector McNeill drückt er so lange in das dreckiges Wasser, bis ihm die Luft für immer ausgeht.
Kreative Halluzinationen: Jagd auf die Guzmans
Laut Thomas Wörtche, Literaturkritiker, Kenner und Freund, bezeichnet Charyn sein poetisches Verfahren als „kreative Halluzination“ (13). Halluzinationen verzerren, vergröbern, vergrößern die wahrgenommenen Formen, Wirklichkeit und Einbildung sind kaum voneinander zu trennen, und, was vielleicht am wichtigsten ist, moralische Wertvorstellungen nehmen die Gestalt fabelhafter Wesen an. Sidel, der vielgestaltige, vielerfahrene – Odysseus, Sindbad, Sherlock Holmes, Golem, Menschensohn, Waise, ungläubiges Gotteskind und Bronxbub – bewährt sich in den Feldzügen, die die wilde Marilyn so sehr hasst.
Der Wahnwitz, mit dem Sidel die Sippe der Guzmanns durch die vier Bände des Isaac-Quartetts verfolgt, bis sie (ihrem Schöpfer biographisch gleich) Posten im barrio chino Barcelonas fassen, ist nicht einmal mit einer übersteigerten Form von Bullenfanatismus ausreichend zu erklären. Vordergründig und ganz krimimäßig jagt Sidel eine Bande von Zuhältern, die junge Mädchen vom Land am Busbahnhof abgreifen und zu Prostituierten machen. Ein normaler Job für einen Cop. Bei Charyn wird daraus verdreht und zugespitzt einen Bruder- und Verwandtenkrieg, der mörderische Kampf gegen eine von aller orthodoxer Tradition abweichenden Bande von jüdischen Einwanderern.
Die Familie Guzmann ist erst kürzlich eingewandert. Als Marranen – zur Konversion gezwungene spanische und portugiesische Juden – zählen sie aber zu der ältesten Gruppe von Einwanderern ins gelobte Land Amerika überhaupt. Die ersten Juden, von ihren Nachfahren zu hebräischen „Pilgervätern“ stilisiert, die nach einer hundertjährigen Irrfahrt 1654 nach New York kamen waren eben solche Marranen. (Zu denen gehörte übrigens auch Asser Levy, „der Schutzpatron der jüdische Polizisten in Amerika“ (14)). Marrano bedeutet Schwein, Schmutz, chueta Schweinefleischfresser. In der aus Portugal vor der Inquisition geflohenen, über Peru ins gelobte New York gelangten Familie Guzmann porträtiert Charyn eine der unreinsten, aus orthodoxer Sicht verabscheuenswürdigen Diaspora-Gruppen: Schwachköpfe, die nicht einmal den einfachen theologischen Unterschied zwischen Moses und Christus kennen. In Charyns Beleuchtung sind sie die Juden mit der wichtigsten Begabung: Sie haben überlebt, und sie werden überleben. In ihrem Süßwarenladen (ein Ort, der seit Charyns Jugend als Miniverbrecher mit allen Lüsten und Träumen eines Einwandererjungen konnotiert ist) mischen sich Zucker, Sperma, Schokolade und Lottogeld zu unwiderstehlicher animalischer Klebrigkeit. Mit diesem magischen Stoff zaubern sie sich als César und als Zorro, als bärenstarker Jerónimo durch jede widerspenstige Weltordnung. Bodensatz hält durch. Und Esther, die Waise, die ihr Judentum verleugnet, um zur Mätresse des persischen Königs zu werden und den geplanten Mord an ihrem jüdischen Volk zu verhindern, ist ihre Heilige, (15) die erste aller Marranen. Das ist das Paradox: Sie sind Juden, die überleben, weil sie ihr Judentum verleugnen, ohne ihre Menschlichkeit aufzugeben.
Doch alle exotische Liebenswürdigkeit nützt ihnen nichts. Sidel will sie ausrotten. „Die Guzmanns waren keine wunderlichen Leute mehr, malerische Zurückgebliebene mit Lotteriescheinen, die zu Hause in ihrem Süßwarenladen beteten; sie waren ‚Fleischfresser‘ (Käufer von Menschenfleisch), eine Familie von Insekten, die auf Isaacs Gebiet betete.“ (16) Angesichts der Guzmanns wird Sidel von atavistischem Ausrottungswahn befallen, als teile er irgendwelche Wahntheologien von der Reinheit des Blutes. Und so kommt er Papa, dem Chef der Guzmanns auch vor, nicht als Jude anderer Art, sondern als „einer dieser Würgeengel, die der Lord Adonai geschickt hatte, um die Schweinefresser zu peinigen.“ Und als Völkermörder: „Welcher andere Bulle hätte sechs Guzmanns auslöschen wollen, fast eine gesamte Menschengattung?“ Die Antwort: Nur der Jude Sidel.
Ist das „kreative Halluzination“? Man könnte es auch Realismus nach dem Holocaust nennen.
Der chinesische Jongleur
Keineswegs abgetrennt, sondern elementarer musikalischer Bestandteil dieses Verfahrens ist Charyns Sprache. Seine erste Sprache waren die Bilder. Comics und Filme verstand der kleine Junge unmittelbar. Ihre bombastisch übersteigerte Bildlichkeit, ihre Drastik haben Charyns unglaublich bildhafte und zugleich präzise Sprache geschult. Die Kriminalromane um Sidel haben ihn zwar berühmt gemacht. Doch Jerome Charyn ist vielseitiger unterwegs: als Songwriter (für seinen Freund Georges Moustaki), als Texter für Graphic Novels, als Romancier, als Sachbuchautor (u.a. über Isaak Babel, Baseball und „Metropolis“ New York), als Autobiograph und nicht zuletzt als Film- und Kulturwissenschaftler an der American University in Paris. Aus diesen Erfahrungen und Quellen, aus einer stupenden Bildung, die von klassischer Literatur bis zur populären Kultur reicht, speisen sich die Anspielungen und Zeichensysteme, mit denen er jenes zugleich mit der Realität und ihren Tagesereignissen verknüpfte und gänzlich surreale New York ausbreitet, das uns in die Sidel-Romanen begegnet.
Es ist eine Mischung aus Bewunderung und Erschöpfung, mit der man einen Band Charyn zuklappt. Wie ein chinesischer Jongleur, der auf einem Set unterschiedlich langer elastischer Stangen eine Zahl von Tellern rotieren lässt, hält Charyn einen ganzen Kosmos in der Schwebe, der aus verschiedenen Ebenen besteht und sich ständig in Rotation befindet. Das Tempo, mit dem Charyn auf wenigen Seiten von Figur zu Figur, aus der Geschichte in die Gegenwart, vom Faktischen ins Phantastische ins Mythische saust, lässt das Verkehrchaos seiner Geburtsstadt lahm aussehen. Die Konzentration, die Charyns Wirbel vom Leser verlangen, wird belohnt durch Räusche – des Witzes, der Bildkraft, der Erkenntnis. Hat man einen Weile Charyn gelesen, verwandelt sich die Welt: zunächst treten ihre Konturen schärfer hervor, dann wird sie zu reiner sinnlicher Oberfläche aus Geschmack und Geruch und Getaste (die Sexszenen!), um letztendlich eine eigene Bildhaftigkeit zu entfalten, die jenseits aller immer enthaltenen Bedeutung einfach Lust verschafft.
Ob korrupter Bulle, ungebildeter Idiot oder Joyce-Exeget: Wer möchte bitte nicht einen Scheck bekommen, der auf „Anna Livia Plurabelle“ ausgestellt ist, sei er gedeckt oder nicht?
Anmerkungen:
1 Jerome Charyn: Der schwarze Schwan; Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld; Alexander Fest Verlag; Berlin 2002; S. 25
2 Blue Eyes, Hamburg 2003; S. 16
3 Jerome Charyn, Interview, in „Die unfassbaren Phantasmagorien des Schriftstellers Jerome Charyn“ von Hein Brühl u. Jürgen M. Thie; Deutschlandfunk 2009
4 Jerome Charyn: Blue Eyes und der König der Barbiere; Nachwort zu Marilyn the Wild, Rotbuch Berlin, 1992, S. 204 (Ursprünglich: Vorwort zu „The Isaac-Quartet“, 1984)
5 Isaak Babel: So wurde es in Odessa gemacht; in: Geschichten aus Odessa; Deutsch von Milo Dor und Reinhard Federmann; dtv, München 1987; S. 62
6 Rich Cohen: Murder Inc. – oder Nicht ganz koschere Geschäfte in Brooklyn; S. Fischer; Frankfurt/Main 2009. Cohen erzählt von der Verehrung seines Vaters und seiner Kumpel, darunter Talkmaster David Letterman, für die jüdischen Gangster.
7 Pieke Biermann: Der Diaspora-Detective – Charyn, Sidel und die Bronx-Connection. 2001 http://www.kaliber38.de/features/biermann/charyn.htm (zuletzt gesichtet: 10.08.2009)
8 Secret Isaac, Hamburg 2002, S. 102
9 Secret Isaac; Hamburg 2002; s. 269
10 Jerome Charyn: Officer Reilly He’s Not; New York Times 19.9. 2004
11 Porträt auf J-Grit The internet Index of Tough Jews: http://www.j-grit.com/public-servants-albert-seedman.php
12 Marilyn the Wild, Berlin 1992, S. 166
13 Thomas Wörtche: Nachwort zu „Der Tod des Tangokönigs“, Zürich 2000; http://www.unionsverlag.com/info/link.asp?title_id=1942&link_id=640 , gesichtet 17.08.2009
14 Jerome Charyn: Officer Reilly He’s Not; New York Times 19.9. 2004
15 Blue Eyes, 95
16 Blue Eyes, S., 189