Jeong Yu-jeongs SIEBEN JAHRE NACHT zeigt ein Süd-Korea der Schuld und Gewalt.
Sowon ist elf Jahre alt und steht im Blitzlichtgewitter. Das ist der Moment, in dem er für jeden Koreaner zum „Sohn des Stausee-Monsters“ wird. Erst vor zwei Wochen ist Sowon mit Mutter und Vater an diesen Ort am Seryong-See gezogen. Dann hat sein Vater die Schleusen des Stausees geöffnet. Hunderte Menschen sind umgekommen, ihr Dorf wurde überschwemmt. Da spielen die näheren Umstände kaum eine Rolle. Die zählen nur für die unmittelbar Beteiligten, und von deren Verstrickungen erzählt der faszinierende Kriminalroman SIEBEN JAHRE NACHT der koreanischen Autorin Jeong Yu-jeong.
Nach der Katastrophennacht waren Sowon und der damalige Untermieter seiner Eltern, den er Onkel nennt, sieben Jahre auf der Flucht vor den Medien. Kaum haben sie eine neue Unterkunft gefunden, schon wird in der Presse lanciert, der Sohn des Massenmörders sei da. Selbst in dem tristen Dorf am Meer, in dem sie zuletzt Zuflucht gefunden haben, können sie keine Ruhe finden. Als die beiden erfahrenen Taucher die Opfer eines Tauchunfalls bergen, stürzen sich die Medien erneut auf Sowon. Der Onkel verschwindet, hin-terlässt dem Achtzehnjährigen aber ein unvollständiges Romanmanuskript.
Sowon muss mit der Schuld des Vaters, die ihn selbst stigmatisiert, klarkommen. Wider Erwarten wird das möglich: Als Augenzeuge hat der Onkel festgehalten, was in den schicksalhaften zwei Wochen vor sieben Jahren geschehen ist. Da ist Sowons Vater, ein sanfter, tölpelhafter Ex-Baseball-Profi, der im Suff die zehnjährige Tochter seines Arbeitgebers angefahren hat. Das Mädchen war vor den grausamen Bestrafungen abgehauen, mit denen ihr Vater, der Besitzer des Landschaftsparks am See, sie und ihre Mutter überzog. Und da ist Unju, Sowons Mutter und Plagegeist ihres Mannes, in ihrer Statusgier der passende Gegenpart zum Parkbeherrscher Yi, der alle und alles kontrollieren muss.
Es sind nur wenige Menschen, die Jeong Yu-jeong an diesem fiktiven Ort zusammenführt, zwei Elternpaare, je ein Kind sowie den Onkel mit seinen Fertigkeiten als Taucher und Schriftsteller. Vor dem Hintergrund von Landschaftspark und Stausee – anscheinend domestizierte Natur – streben sie monadisch jeder für sich nach ihrer persönlichen Befriedigung, alle dominiert von der absoluten Machtgier des einen, des Parkbesitzers Yi.
In der Verdichtung auf wenige Tage und Figuren funktioniert Jeongs komplexe Erzählung wie Meeresbrandung: In ihrem Vor und Zurück werden die einzelnen Szenen – Quälereien, Prügel, Demütigung, hilflose Liebe – zu feinem Sand zermahlen. Und aus diesem Unglückssand wird sich Sowon nach einer überraschenden Schlusswendung seine Zukunft backen. Erstaunlich.
Jeong Yu-jeong: Sieben Jahre Nacht
Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel
Unionsverlag, 524 Seiten
erstmals auf der KrimiZeit-Bestenliste Dezember 2015
Dieser Artikel ist in der ZEIT am 3. Dezember 2015 erschienen