Lee Childs UNDERGROUND ist Action up to date
Was würden Sie tun, wenn Sie nachts um Zwei in der U-Bahn eine Frau mit unpassender Kleidung und einer großen Umhängetasche entdeckten, die hechelnd atmet, schwitzt, Gebete murmelt und vor sich hin starrt? Wenn Ihnen die Zwölf-Punkte-Liste der israelischen Terrorismusabwehr gegenwärtig wäre, würden Sie die Frau mittleren Alters als potenzielle Selbstmordattentäterin einstufen, an der nächsten Station aussteigen und den Notruf betätigen. Nicht so Jack Reacher. Er checkt kurz die Fahrgäste des 6- Train in Manhattan, geht auf die Frau zu – auch dort, wo er gesessen hatte, war seine Überlebenschance Null – und bittet sie, die Hände aus der Tasche zu nehmen. Sie folgt, zieht einen Revolver und schießt sich den Kopf weg. So beginnt der dreizehnte Thriller mit Jack Reacher: Underground.
„Jack Reacher“ ist die erfolgreiche und gelungene Wiederbelebung eines männlichen Action-Rollenmodells, das ausgestorben schien, als Steve McQueen, Clint Eastwood oder Richard Harris in die Jahre kamen. Als Militärpolizist in der 110th Investigative Unit der US-Army ist Reacher dreizehn Dienstjahre lang mit Männern fertig geworden, die als Mitglieder der Special Forces das Töten aus dem ff beherrschten. Seit seiner Entlassung aus dem Militärdienst 1997 vagabundiert er durch die USA und tut, was richtig ist. Er killt Übeltäter. Reacher ist härter als alle.
Reacher ist eine Erfindung Lee Childs. Nach knapp zwanzig Jahren bei einer britischen TV-Firma entlassen, wechselte Child in die Staaten und kreierte mit Reacher einen Helden, „den er buchstäblich überall aus dem Auto werfen und Handlung aufnehmen lassen kann“ (Alf Mayer). Die überragende, süchtig machende Qualität der Reacher-Romane beruht auf drei Elementen: konsequente Handlungsorientierung, perfekte Beherrschung der technischen Details, subtiler Kommentar zur politisch-gesellschaftlichen Lage. Über letzteres kann jeder, der will, hinweglesen. Oder in Child einen Schüler Hugo von Hofmannsthals im Action-Genre erkennen. („Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.“)
Im aktuellen Fall ist die Oberfläche blank geputzt wie ein Militärstiefel. Kein Blutspritzer gibt dem Selbstmord im 6-Train Sinn. Bis Reacher vom Bruder der Toten, von Privatdetektiven, von Bundesagenten und von einer Revierpolizistin angegangen wird. Die Selbstmörderin musste ein Dokument oder einen Datenstick bei sich gehabt haben. Reacher fühlt sich auf diffuse Weise verantwortlich und stößt auf einen Veteranen der Delta-Forces, der für den Senat kandidiert. Ein bizarres Mutter-Tocher-Paar, das der Niederlage der UdSSR in Afghanistan entkrochen ist, ist hinter dem Stick und dem US-Senatorkandidaten her. Reacher vermutet eine propagandistische Rache-Attacke und versucht, den Ex-Kameraden zu schützen. Im nächtlichen MP-Gewitter – Reacher erledigt sechs Männer und geht bei einem Messerkampf beinahe drauf – werden Al-Kaidas Kräfte in Manhattan ausgelöscht. Das, was auf dem Stick war, bleibt geheim. Aber wir begreifen staunend, dass Child uns gerade eine Lektion über die Bedeutung von Propaganda in der asymmetrischen Kriegführung erhalten haben. Nach Reachers Regeln.
Lee Child: Underground
Aus dem Englischen von Wulf Bergner
blanvalet 2012, 445 Seiten
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 50 vom 6.12.2012; auf der KrimiZEIT-Bestenliste 12/2012