Vier neue Titel: je einer aus Großbritannien, Deutschland, USA und Schottland. Die Schauplätze: London, Norfolk, Hamburg, „Charon“ in Virginia, Edinburgh.
Angesichts des Großverbrechens Angriffskrieg, das Putin begeht, möchte man über Krimis schweigen. Seit 23 Monaten.
Platz Eins im Januar:
Neu auf der Krimibestenliste:
1 Das strömende Grab (The Running Grave)
DAS STRÖMENDE GRAB ist der siebte Kriminalroman mit dem Ermittlerpaar Cormoran Strike/ Robin Ellacott, den Joanne K. Rowling unter dem inzwischen beinahe ebenso bekannten Pseudonym Robert Galbraith verfasst hat. Galbraith wollte als unbekannter Noname versuchen, ein Revival des klassischen Whodunnit zu starten. Da schon beim ersten Titel der Serie das Pseudonym aufflog, knallte schon 2013 DER RUF DES KUCKUCKS durch die Decke. Jeder wollte wissen, was Rowling kann. Ich fand das Krimidebüt langweilig und einfallslos.
In den postviktorianischen (Geschlechter-)Beziehungen – darunter die never ending Nicht-Beziehung zwischen den beiden Detektiven – und anderswo grassierten Klischees und Ressentiment. Auch wenn die folgenden fünf Romane stringenter und länger wurden, eine recht gelungene Mischung von Whodunnit und Horror konnte Galbraith erst mit diesem siebten Stück vorlegen.
Galbraith gelingt es in DAS STRÖMENDE GRAB, über 900 Seiten zunächst das Horrorbild einer Psycho-Sekte schlimmster Art aufzubauen, Robin undercover dorthinein zu bringen und unter Lebensgefahr wieder rauszuschaffen. Darauf folgt ein gelungener, radikaler Twist vom Horrorthriller zum Whodunnit: Hinter den Morden, die angeblich zum Schutz der Sekte vor Entlarvung begangen wurden, steckt eine fast völlig unerwartete Person.
Dank Galbraith‘ formidabler Erzählkunst liest man über langwieriges Beiwerk hinweg – oder amüsiert sich wie Jutta Günther in ihrem neuen Blog krimi-frauen.de – und kaut so lange Nägel wie nie zuvor. Meine Rezension vom 5.1.24 finden Sie hier.
3 Schwarzer Oktober
Für meinen Geschmack viel zu selten taucht der Alleskönner und an Vielseitigkeit kaum zu überbietende Krimihandwerker Robert Brack auf der Krimibestenliste auf. Wie vor ihm nur der Münchner Robert Hültner vereint Brack zwei Subgenres in raffinierter Perfektion: den regionalen und den (zeit-)historischen Kriminalroman.
Seine bisher in der Zwischenkriegszeit spielenden Romane um die lesbische, unorthodoxe Journalistin, Schriftstellerin und Kommunistin Klara Schindler bekommen mit SCHWARZER OKTOBER quasi ein Intro: Klara ist aus ihrer kleinbürgerlich-spießigen Familie und dem Stiefvater abgehauen, will Kommunistin und Arbeiterin werden. Sie wird demnächst volljährig werden, ist hin- und hergerissen zwischen der lebenslustigen Selma und der Partei, die aber ihren freizügigen Lebensstil und ihre sexuelle Orientierung nicht mag. Fasziniert wird sie von der Selbstorganisation der Prostituierten und ihrer Vorkämpferin Ketty Guttmann.
Diese historische Person ist die stille Heldin des Romans. Brack trägt zu ihrer Wiederentdeckung bei: Sie bekämpft die Unterwerfung der deutschen Kommunisten unter das Kommando der Komintern, fightet gegen ihre Stalinisierung nach dem gescheiterten Oktoberaufstand, will Freiheit auch als sexuelle verstehen, Kommunismus ist mit dem Patriarchat unvereinbar.
Das findet konkrete Gestalt im „Schnitter“, einem Mörder, der besonders perfide Frauen im Vorbeigehen aufschlitzt, deren Moral er als anrüchig empfindet. Beeindruckend geschildert in Karlas Tagebuch auch das fürchterliche Elend der Inflation. Ein großes, kleines Buch nicht nur für Hamburger. Die Geschichte, wie Karla nach Hamburg kam, erzählt Robert Brack, ebenfalls mit Karlas Ich-Stimme, im Sammelband HAMBURG NOIR: „Die Enteignung“.
5 Der letzte Wolf (All the Sinners Bleed)
S.A.Cosby ist ein aufgehender Star, fast schon Fixstern, am Himmel der afro-amerikanischen Literatur. Zwei seiner Bücher standen bereits auf der Krimibestenliste. In BLACKTOP WASTELAND (2021) und DIE RACHE DER VÄTER (2022) spürt er Motiven und Ursachen der Gewalt im rassistischen Süden der USA nach. Zugespitzter noch in DER LETZTE WOLF.
Es ist eine paradoxe Situation: Im County „Charon“ geben rassistische Weiße den Ton an, aber die Schwarze Mehrheit hat Titus Crown, Schwarzer, ehemals FBI-Profiler, zum Sheriff gewählt.
Der steht nun zwischen den Stühlen des Gesetzes, dem er verpflichtet ist, und denen der Ansprüche seiner Community, die denkt, jetzt hätte sie Oberwasser. Aber einer von ihnen, Dealer, erschießt einen der beliebtesten Lehrer, wird dann, bevor er ein Schulmassaker – sowieso eher eine weiße Leidenschaft – anrichten kann, von der Polizei erschossen. Hintergrund des Amoklaufs: Der afro-amerikanische Dealer war Teil eines Trios von Kinderschändern, zu dem der tote weiße Lehrer gehörte – und ein dritter Mann, der auf den Videos seiner Untaten, begangen an schwarzen Kindern, eine Wolfsmaske trägt. Wendungs- und verwicklungsreich, differenziert, der beste von allen Romanen Cosbys bisher.
9 Eingefroren (The Big Chill)
Großmutter Dorothy, Mutter Jenny und Enkelin Hannah Skelf betreiben ein Begräbnisinstitut und eine Privatdetektei: Tod und Verbrechen umgeben sie. EINGEFROREN ist der zweite Band von Doug Johnstone mit dem Frauen-Trio aus Edinburgh.
Nachdem Craig McNamara die schwangere Freundin seiner Tochter Hannah und fast auch seine geschiedene Frau Jenny sowie Hannah ermordet hat, sitzt er im Untersuchungsknast und behauptet, unschuldig, nicht bei Sinnen, gewesen zu sein. Der charmante Psychopath kann fliehen und will Rache an seiner Ex-Familie nehmen. Die ist noch mit weiteren Untersuchungen beschäftigt. Denn Ermittlungsarbeit verspricht Trost und Orientierung in einer chaotischen Welt.
Patriarchin und Rationalistin Dorothy bringt das innere Thema von Johnstones bisher drei Bände umfassender Serie auf den Punkt: „Es gab vieles, was die Wissenschaft noch nicht wusste, und Wissenschaftler würden nie erklären, warum wir uns gegenseitig belogen und uns selbst.“ Das gelingt in EINGEFROREN vorzüglich, garniert mit einer Prise schwarzem Humor.
Und wo gibt es überall die KRIMIBESTENLISTE JANUAR?
Die KRIMIBESTENLISTE JANUAR ist seit Freitag, dem 5. Januar 2024, auf Deutschlandfunk Kultur online und kann hier als einseitiges PDF u.a. zum Aushang in Buchhandlungen heruntergeladen werden.
Als zweiseitiges PDF vom Deutschlandfunk Kultur gibt es die KRIMIBESTENLISTE JANUAR hier.
Kommende Rezensionen sind auf der Deutschlandfunk-Seite Rezensionen des Monats nachzuhören und zu -lesen.
Dank auch an die Redaktion von Weltexpresso, die jeden Monat nicht nur die Krimibestenliste abbildet, sondern auch die Veränderungen, und alle zehn Bücher engagiert kommentiert.
Und noch eine Neuigkeit: Jutta Günther, seit vielen, vielen Jahren Mitglied unserer Jury, schreibt neuerdings einen Krimi-Blog, der den schreibenden Frauen gewidmet ist: krimi-frauen.de Schauen sie mal rein!
Ich wünsche Ihnen ein gutes, erfolgreiches, friedvolles Neues Jahr!
Hamburg, am 5.1. 24
Ihr Tobias Gohlis