Max Annas’ dystopischer Politthriller FINSTERWALDE
Mal angenommen, der Beinahe-Crash der Regierung aufgrund von Punkt 27 des „Masterplans Migration“ sei nur das Vorgeplänkel zu etwas sehr viel Ernsterem gewesen: Das könnte dann aussehen wie die Zukunft, die Max Annas in FINSTERWALDE entworfen hat. „Relativ bald. Oder vielleicht zwei, drei Jahre später“ ist die brandenburgische Kleinstadt Finsterwalde ein militärisch bewachtes Lager für Deutsche mit schwarzer Hautfarbe. Sie heißen Marie, Derek oder Hannelore, wurden bei Nacht und Nebel deportiert. Immerhin lässt die Regierung die Gefangenen nicht verhungern: Abends werden Paletten mit Nahrungsmitteln abgeworfen.
In D – der Buchstabe prangt überall – sind jetzt die an der Macht, die „Politik für Euch“ versprochen haben. Neues Recht: Jeder nichtweiße Bewohner wurde vertrieben oder in Lager gesperrt. Um den Verlust an Fachleuten auszugleichen, werden Weiße aus anderen Ländern angeworben. Eleni, ihre beiden Töchter und ihr Mann Theo konnten so der Diktatur in Griechenland entkommen. Die Familie hat in Berlin-Neukölln eine leere Arztpraxis mit Wohnung übernommen. Theo, ehemaliger Journalist, findet heraus, dass die Vorbewohnerin Marie mit ihren Kindern nach Finsterwalde deportiert wurde.
Mit zwei hochgelobten Kriminalromanen, die in Südafrika spielen, wo er viele Jahre gelebt hat, und dem in Berlin angesiedelten Roman ILLEGAL hat sich Max Annas in die erste Riege der deutschsprachigen Thrillerautoren geschrieben. Er ist der politische Geograf der Fluchtwege, Schlupfwinkel und Rettungsgassen. Und der Ghettos und Lager, auch der mentalen, die verlassen werden müssen. Das, was FINSTERWALDE neben vielem anderem vom gängigen Thriller unterscheidet, ist die Motivation der Helden. Nicht um ihr bedrohtes Leben geht es, sondern um die Befreiung Schwächerer. Als die schwarze Ärztin Marie erfährt, dass in Berlin drei kleine Kinder hilflos in einem Bunker eingeschlossen sind, macht sie sich mit einer kleinen Gruppe auf, sie zu retten. Nur sie wissen von der Notlage der Kinder, nur sie können eingreifen. Sie machen sich zum Freiwild, müssen über hundert Kilometer zu Fuß durch ein Land zurücklegen, in dem jeder auf Schwarze schießen darf. Zu ihnen stößt, von seiner Neugier nach dem Verbleib der Vorbewohnerin getrieben, Theo. Die elektronische Fußfessel, die er im ersten Integrationsjahr tragen muss, ist, so hofft er, ausgeschaltet. Die Freiheitsbeschränkung hindert sie nicht, als autonome Menschen zu handeln. Und dazu gehört auch, dass sie der Gewalt, die ihnen aufgezwungen wurde, mit Gewalt begegnen. Auch wenn Marie deshalb fürchtet, „ihre Approbation zu verlieren“, ihre Würde hat sie gewahrt.
Max Annas: Finsterwalde
Rowohlt hundert Augen, 400 Seiten
Dieser Artikel ist in der ZEIT vom 18. Juli 2018 erschienen.